Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Bild tasten, dann ließ sie die Arme wieder sacken. Wenn das stimmt, murmelte sie. Wenn das wahr ist … wenn das wirklich wahr sein sollte … dass wir von Drogengeld gelebt haben, dass wir unsere Kinder mit Drogengeld aufgezogen haben, dass wir unser Essen mit Drogengeld gekauft haben …
Und diesmal siegten die Verunsicherung, die Wut und Verzweiflung. Die Wut der alleingelassenen Ehefrau auf diesen Mann, der sich einfach davongemacht hatte in den Tod, die Verzweiflung über den Verlust und die Verunsicherung angesichts all der Fragen und nervenzehrenden Vernehmungsrunden, die Wut auf die Polizisten, die Verzweiflung ob der zersetzten Gewissheiten und der Umstände. Und meine Mutter begann zu seufzen, zu stöhnen und zu schluchzen, sie schrie unter Tränen, mehrere Minuten lang schüttelte der Weinkrampf sie. Der Polizist hatte es letztlich doch geschafft, sie zu brechen, ihren Glauben an ihren Mann, zumindest für diesen Moment: War denn, so schoss es meiner Mutter durch den Kopf, ihr ganzes Leben eine Lüge gewesen, ihre Ehe eine Lüge, ihre Ehrbarkeit, ihr Fleiß, ihr Glaube, ihre Mekkareise, alles Lüge, Lüge, Lüge? Konnte das möglich sein, was der Polizist da behauptete?
Nein, konnte es nicht!
Und wenn doch?
Und sie griff nach dem Foto ihres Mannes, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie hielt sich an ihm fest in ihrer Verunsicherung, zerknüllte es in ihrer Wut und zerriss es in ihrer Verzweiflung.
Meine Mutter hatte viel durchzumachen in ihrem Leben in Deutschland. Es fing bei meiner Geburt an, obwohl diese Geschichte noch etwas Lustiges hat: Als ich zur Welt kam, wurde meinem Vater so schlecht, dass er angesichts dessen, was da vorging, ohnmächtig wurde. Die Ärzte mussten sich um ihn kümmern und haben kurzzeitig meine Mama vergessen.
Nach Vaters Tod musste meine Mutter einfach funktionieren. Sie konnte sich nicht erlauben, sich in ihrer Trauer gehenzulassen, musste sich um zwei Kinder und das ganze Geschäft kümmern. Vielleicht wäre das damals die Möglichkeit gewesen, in die Türkei zurückzukehren. Aber Kerim und ich waren in Deutschland geboren und aufgewachsen, hier hatte sie uns erzogen. Nun, nachdem wir gerade unseren Vater unter unbegreiflichen Umständen verloren hatten, war nicht der richtige Zeitpunkt, uns Kinder auch noch irgendwohin zu verpflanzen, wo wir uns womöglich nicht zurechtfinden würden. Zudem lebten hier unsere Onkel, die uns unterstützten.
In den Jahren nach dem Tod meines Vaters hatte Mutter große Angst um Kerim und mich. Sie hatte das Vertrauen verloren, dass das Leben sicher sei. Das belastete unser Verhältnis, als ich mit siebzehn anfing, abends auszugehen, erst spät in der Nacht heimkam oder gleich bei einer Freundin übernachtete. Dies beunruhigte meine Mutter, sie rief uns immer an, um zu fragen, wo ich war, wann ich heimkäme, warum ich überhaupt weg sei. Ich konnte damals ihre Sorge nicht verstehen, vielleicht wollte ich sie auch nicht verstehen. Heute kann ich mich in die Lage meiner Mutter versetzen, damals fand ich es nur nervig. Meinem Bruder fielen die Dinge nicht leichter. Er ist impulsiv und tat schon immer einfach, was er wollte, Machtworte seiner Mutter hat er zeitweise nur schwer akzeptiert.
In diesen Jahren wurde meine Mutter sehr krank. Sie war depressiv, was mir damals nicht bewusst war. Sie litt unter Schlafstörungen und oft unter völliger Antriebslosigkeit. Sie leidet bis heute darunter. Meine Mutter, die früher immer gearbeitet hat, bleibt manchmal den ganzen Tag im Bett, in einer Erschöpfung, gegen die sie nicht ankommt. Wenn sie heute bei einer Verkehrskontrolle angehalten wird, befällt sie immer noch die Panik. Ihre Hände beginnen zu zittern, weil die Erinnerungen an den Moment wieder hochdrängen, als die Polizisten mit der Todesnachricht und den Verdächtigungen in die Wohnung kamen, an die langen, quälenden Vernehmungen.
Nach meiner Internatszeit lebte ich einige Jahre wieder bei ihr zu Hause, und da gab es Höhen und Tiefen. Dennoch gelang es ihr trotz ihrer eigenen Zweifel, Kerim und mir das Gefühl zu vermitteln, dass sie immer für uns da ist. Mit innerer Größe hat sie uns getragen, und ihr Glaube stützte sie darin. Nach muslimischer Anschauung kennt Gott das Schicksal eines jeden Menschen im Voraus. Es heißt: Wir kommen zur Welt, und jeder Atemzug ist bereits vorgeschrieben in unserem Lebensbuch, und das Schlimme zu tragen, ist unsere Aufgabe. Meine Mutter hat diese Aufgabe angenommen. Bei allem Leid wurde sie nie
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