Schmerzverliebt
poch.«
»Pia, das war mein erster Kuss!«
»Hab ich gemerkt.« Ich grinse, lecke mir kokett über die Lippen. »War er wenigstens gut?«
»Ja, oh ja. Für dich war das nicht dein erster?«
»Nein.«
»Ich … oh, hoffentlich … ich … « Er hebt die Hände vors Gesicht.
»Hey Sebastian! Guck mich an!« Ich schüttele ihn. »Es hat mir gefallen!«
Er nimmt die Hände von den Augen. »Wirklich?«
»Ja! Und du weißt ja: Übung macht den Meister. Hey, jetzt guck doch nicht wieder so! Mensch, bist du ein komischer Kauz! Wenn man uns so sieht, fragt man sich bestimmt, wer mehr eine Schraube locker hat, du oder ich.«
»Eindeutig ich. Ich bin voll verklemmt, das hast du ja schon gemerkt.«
»Ich hab auch meine Macken.«
»Du? Nein! Du bist toll! Hab ich dir das noch nicht gesagt? Du bist großartig, Pia!«
»Quatsch!«
»Doch!« Er umarmt mich heftig. »Was ein Glück, dass ich dich kennen gelernt habe!«
»Achtung, du zerquetschst mich«, piepse ich.
»Ach herrje!« Er lässt mich ruckartig los, erfasst meine Hände. »Daran hab ich ja gar nicht mehr gedacht! Was machen die Wespenstiche? Tun sie noch weh? Mir fällt gerade ein, dass man sie mit rohen Zwiebeln einreiben kann, die lindern den Juckreiz. Hast du das gemacht?«
»Hab ich.«
Er seufzt erleichtert. »Das ist gut.«
»Sie tun auch gar nicht mehr weh.«
»Darf ich mal sehen?«
Ich zucke zurück. Mein Fuß tritt gegen eine leere Blechdose, die über den Asphalt scheppert. »Nein! Was soll’s denn da zu sehen geben?«
»Ach nichts. Nur so. Blöde Idee. Entschuldigung.«
»Komm, wir wollten doch einkaufen gehen.«
Als ich heimkomme, ist es nach eins und meine Eltern schlafen bereits. Ich bleibe einen Moment vor ihrer offenen Schlafzimmertür stehen, lausche auf ihr Schnarchen und betrachte liebevoll ihre vom Mondlicht beschienenen Gesichter. Meinem Vater steht der Mund ein Stückchen offen, ein Speicheltröpfchen glänzt auf seinem Kinn und seine blonden Haare sehen im Nachtlicht schon merklich grau aus. Meine Mutter hat sich die Bettdecke weggestrampelt und das gläserne Pillendöschen ist von ihrem Nachttisch auf den Boden gefallen. Seit einiger Zeit muss sie regelmäßig Tabletten einnehmen, um mit dem Stress im Beruf besser fertig zu werden. Ich schleiche ins Zimmer, hebe das Pillenglas auf, damit sie morgen früh nicht aus Versehen drauftritt. Auch die Lesebrille meines Vaters nehme ich vom Boden und lege sie auf die aufgeschlagenen Bücher und Schulhefte auf seinem Nachttisch.
Mein Vater ist Lehrer an unserem Gymnasium, unterrichtet Erdkunde und Religion. Meine Mutter leitet ein Altenheim. Beide haben sie superviel zu tun. Außerdem sind sie in ihrer Freizeit in verschiedenen kirchlichen und umweltpolitischen Gruppen aktiv, daher erledigen sie ihre Korrekturen und ihren Bürokram am Wochenende und abends im Bett. Wenn sie Ferien haben, bilden sie sich weiter und engagieren sich in verschiedenen Projekten, so kommen sie weder dazu, sich auszuruhen, noch zu den schönen Dingen, die man auf diesem Möbelstück anstellen kann. Meine Eltern brauchen diese schönen Erlebnisse auch nicht. Wenn sie nicht arbeiten, beim Mittagessen zum Beispiel, reden sie über menschliche Schicksale und Papas Schüler. Da wird debattiert, wie schwer es den Jugendlichen heute fällt, sich zu konzentrieren, und wie zerrüttet die Familien sind. Manchmal streichen sie mir dann über den Kopf, so, als solle diese Geste ausdrücken, wie stolz sie sind, dass ich mich so hervorragend entwickle. Das tue ich ja auch. Ich rauche nicht, ich schwänze nicht die Schule, und ich bin pünktlich um Mitternacht zu Hause, obwohl es niemand kontrolliert. Das müssen sie auch nicht, denn meine Eltern können selbstverständlich davon ausgehen, dass sie eine erwachsene und für ihre sechzehn Jahre sehr selbstständige und vernünftige Tochter haben, die die Schule mit links schafft, sich in der Kirche und im Umweltschutz engagiert, nebenbei Erfolg mit ihrem Musikinstrument hat und sich insgesamt genauso vorteilhaft entwickelt wie ihr großer Bruder Benedikt. Sie erwarten, dass ich nie eine Spraydose zücken und meinen Namen auf fremde Hauswände schreiben werde und dass ich, wenn sie nicht da sind, abends brav ein Buch lese oder die Spülmaschine ausräume, statt Jungs einzuladen. Deshalb lieben sie mich. Weil sie sich auf mich verlassen können und sich nicht um mich kümmern müssen.
Doch da liegen sie falsch. Ich habe die letzten Klassenarbeiten so verhauen, dass es mich
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