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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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nervös in meine Oberschenkel. «Mir geht’s gut. Nur ein bisschen nervös. Ich … ich warte auf einen Kunden.»
    «Oh», sagt sie. «Für das Séparée? Oder für einen privaten Striptease?»
    «Ähm. Beides.» Ich weiß nicht einmal, ob meine Antwort irgendeinen Sinn ergibt. Also setze ich hastig hinzu: «Hast du … Anchor irgendwo gesehen?» Ich schlucke trocken und bohre den Absatz in den Boden.
    «Anchor?» Sie hält kurz inne und überlegt. Ich halte den Atem an. «Ich hab keine Ahnung, wer das ist.»
    Mir wird ganz schwer ums Herz.
    «Aber ich arbeite hier auch erst seit ein paar Monaten», fährt sie mit einem Achselzucken fort. «Ich kenne noch nicht alle hier.»
    Neben mir öffnet sich ein Vorhang. Ich beuge den Nacken etwas, damit das Perückenhaar mein Gesicht verbirgt. Ein dicker, glatzköpfiger Mann tritt heraus und lächelt Glory im Vorübergehen an.
    «Bis nächste Woche, John! Viel Spaß in Jamaika!» Sie zwinkert ihm zu. Er schlängelt sich durch das Gewirr von Tischen in den Flur, der zum offenen Teil des Clubs führt. Dann dreht sie sich zu mir um, eine Hand auf der knochigen Hüfte. «Hast du die anderen Mädchen gefragt? Die wissen bestimmt besser Bescheid.»
    «Nein. Noch nicht. Ich … er hat gesagt, er würde hierherkommen, und ich … ich will ihn nicht versetzen.» Ich halte inne und spreche dann extra langsam. «Ich tanze heute zum ersten Mal. Und ich kenne die anderen Mädchen noch nicht.» Ich starre auf ihren nackten Bauch, auf den kleinen, erhabenen Knopf ihres Bauchnabels. Ihre muskulösen Schenkel sind von violetten Fransen bedeckt, die am glitzernden Stringtanga hängen. Ich schaue ihr wieder ins Gesicht. Sie hat schmale Lippen und trägt zu viel Lidschatten.
    Glory beißt sich mit den Zähnen einen Niednagel ab und spuckt ihn aus. «Na ja, ich meine, ich wollte jetzt gerade auf die Bühne – ich kann mich ein bisschen umhören und dir dann Bescheid geben, okay?»
    Ich nicke, noch einmal, noch einmal. «Das wäre super .»
    Sie lächelt breit: «Ich bin gleich nach meinem Auftritt bei dir, okay? Und du brauchst nicht nervös zu sein wegen der Mädchen – sie sind toll. Ein paar von ihnen müssen erst ein bisschen auftauen, verstehst du?»
    Ich schaue ihr hinterher, wie sie fortgeht, und ziehe mich in meine dunkle Ecke zurück, um zu lauschen, zu beobachten und zu warten.
    Anchor. Offenbar hat jeder in diesem Club einen Spitznamen. Als ob sie irgendwann wissen, dass sie unauffindbar werden müssen – als ob sie wissen, dass sie keine andere Wahl haben. Anchor. In meinem Schädel hämmert es im Takt des Techno-Beats, der aus den Lautsprechern dringt. Los. Los. Los.
    Die Zeit dehnt und zieht sich wieder um mich zusammen, sie gebiert Gestalten in der Dunkelheit, aus dem Nichts: Mom, die mich an sich drückt, bevor ich in den Schulbus steige, am ersten Schultag der sechsten Klasse in South Bend, Indiana. Geh einfach auf die Toilette, wenn du die Dinge tun musst, die du immer tust, Lo. Melde dich einfach und sage, dass du mal musst. Glühwürmchen. Oren und ich. Wir fangen sie in Weckgläsern, ihre leuchtenden Körper, das gelbe Licht. Sapphires Zimmer. Flynt, den eine Welle hineinträgt. Der Trommelkreis. Das Hämmern, der Beat. Ein Lachen. Seine Arme, die sich über dem blutbeschmierten Teppich nach mir ausstrecken. Finger. Schultern, Haut. Seine Haut. Wie ich seine Haut berühre. Salz, Erde, eine Eiche. Espen. Kälte. Oren, wie er sich im Sturm einen Weg durch den brusthohen Schnee bahnt. Wir taten so, als würden wir im Schnee schwimmen. Auf dem Friedhof. Wir gehen hintereinander, die Köpfe gesenkt. Mom. Ich bleibe hier. Ich gehe nirgendwohin. Dad und ich im Schwimmbad in Kakakee. Schwimmflügel. Ich bin ja da, Lo. Ich lass dich nicht los, meine Süße. Ich bin ja da.
    Die Vergangenheit verschluckt mich. Dann bewegt sich der Vorhang, und Glory geht wieder hindurch, einen kleinen, dünnen Mann mit einer Riesennase im Schlepptau. Sie schiebt ihn in ein Séparée. Ich trete aus der Dunkelheit, um ihren Urteilsspruch anzuhören.
    «Kein Glück gehabt», sagt sie und schüttelt bedauernd den Kopf. «Ich habe herumgefragt, aber keiner hat von einem Anchor gehört. Vielleicht ist er verschwunden. Geh einfach da raus und hol dir einen anderen, Mädchen!» Sie zwinkert mir zu und verschwindet in ihrem Séparée, außer Sichtweite.
    Schweren Herzens verbeuge ich mich wieder, bis hinunter zum Boden, berühre meine Zehen. Habe ich mich vielleicht getäuscht, und Sapphire kannte ihn

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