Schmetterlingsjagd (German Edition)
er überhaupt noch in Cleveland ist –, kommt er vielleicht hierher. Jedenfalls ist es den Versuch wert. Ich muss an seine Finger denken, wie sie sanft über meinen Bauch fahren, sich nach oben bewegen, meine Haut streicheln. Ich verbeuge mich abermals, neun Mal. Ein Dreieck, das mich schützen soll, ein Flehen. Die Äste der Bäume durchkämmen das Mondlicht. Da kommt mir ein Gedanke: Malatesta’s. Vielleicht ist er dort. Und wenn nicht, dann weiß vielleicht Seraphina, die Perückenmacherin, wo ich ihn finde. Wie auch immer – ich muss dorthin. Der Ort ist sicher voller verborgener Geheimnisse.
Ich schlängele mich durch die Straßen. Das Licht der Laternen prallt auf den Bürgersteig, tanzt durch die Bäume, führt mich zu dem Metallverschlag, der Hütte, zu dem tropfenden schwarzen M .
Die Tür ist angelehnt – ich spähe hinein – keine Spur von Flynt. Mein Herz sackt noch ein wenig weiter nach unten, aber ich klopfe drei Mal tip tip tip, Banane – und trete ein. Ich habe keine Zeit, ängstlich zu sein.
Seraphina und Gretchen hängen gerade eine riesige, bemalte Bohle an die Wand. «… leg das mal kurz hin, Gretch», sagt Seraphina, als ich den Fuß über die Schwelle setze, «das ist irgendwie nicht die richtige Stelle – schlechtes Feng-Shui.»
Ich räuspere mich. Gretchens Reifrock raschelt, als sie sich umdreht. «Hey – Flynts Freundin, oder?»
Ich nicke. «Eigentlich bin ich gerade auf der Suche nach ihm.»
Seraphina dreht sich ebenfalls um. «Wir vermissen Flynty auch grade», informiert sie mich, «habe ihn schon ein paar Tage lang nicht mehr gesehen.»
Mein Herz macht einen Ruck, das sinkende Gefühl in meinem Körper verstärkt sich. Ich dränge es zurück und denke an meine Aufgabe. «Eigentlich», sage ich, atme einmal tief durch und hefte den Blick auf die neun perfekten Bretter unter der Decke, «gibt es noch einen Grund, aus dem ich hier bin. Ich … ich brauche Hilfe in einer besonderen Angelegenheit.»
Seraphina wischt sich die staubigen Hände an den Jeans ab, die voller Gipsreste und Glitter sind. «Klar – was ist los?»
«Du machst doch Perücken, oder?»
Gretchen grunzt. «Das ist auch so ungefähr das Einzige, was sie den ganzen Tag lang tut. Sie ist total besessen davon.»
«Tja.» Ich kicke ein getrocknetes Klümpchen roter Farbe weg. «Ich frage mich, ob vielleicht … na ja, könnte ich mir vielleicht eine leihen?»
Seraphinas Gesicht leuchtet auf. Sie hüpft durch den Raum und schlüpft hinter einen Vorhang, hinter dem für den Bruchteil eines Augenblicks ein Lagerraum sichtbar wird – vollgestopft mit Bildern, Pinseln, Kisten. Ein paar Sekunden später erscheint sie mit einem Korb, den sie an die Brust gedrückt hält. Er quillt über vor Perücken. «Ein paar von denen wollte ich sowieso loswerden. Such dir eine aus», sagt sie und grinst breit. «Egal welche, du kannst sie haben. Feierst du eine Kostümparty oder so?»
«Es ist mehr so eine … Performance», antworte ich. Das ist wenigstens nicht gelogen.
«Brauchst du noch irgendwas?», fällt Gretchen ein. «Wir sammeln Verkleidungen, als ob wir dafür bezahlt bekämen.»
«Irgendwas», sage ich. Seraphina verschwindet erneut hinter dem Vorhang und zieht dann eine antike Truhe hinter sich her, die voller Kleider, Schuhe, Stoffreste und Spitze ist. «Alles.»
***
Am Ende des Häuserblocks biege ich um eine Ecke und gehe an dem kleinen schwankenden Mann mit den verhangenen grauvioletten Augen vorbei – der Prophet. Ich bleibe stehen und schaue ihm zu, wie er sich, ganz in seiner eigenen Welt versunken, hin und her wiegt und dabei stöhnt. Ich erinnere mich daran, wie er Bird beschrieb, als ich nach ihm fragte, in jener Nacht mit Flynt – Ein Einhorn, die ganze Zeit. Und eine Nachtigall, wenn es ihm in den Kram passte . Damals hatte es geklungen wie das verworrene Geschwätz eines Verrückten.
Ich schaue zu, wie sein gebückter kleiner Körper von links nach rechts wankt. Er hat die Hände zum Himmel erhoben, als ob er ihm huldige. Der Prophet ist nicht verrückt – er hatte recht. Orens Leberfleck, dieser geheimnisvolle Punkt genau in der Mitte seiner Stirn – und er war wirklich genau in der Mitte, wir haben das einmal ausgemessen –, hat ihn zu einem «Einhorn» gemacht und sein überraschend schönes Pfeifen zu einer «Nachtigall».
Irgendwie muss ich mich bei ihm bedanken, und ich krame in meiner Tasche nach Kleingeld.
Ich stelle mich direkt vor ihn und verbeuge mich sechs
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