Schmetterlingsjagd (German Edition)
gar nicht? Nein. Aus den Nachrichten ging klar hervor, dass er ihr Kunde war. Neun, neun, sechs. Verbeugung, Zehen berühren, aufrichten. Wiederholung. Immer und immer wieder. Da fällt es mir plötzlich ein: Ruf ihn an. Ruf ihn noch mal an. Er muss doch irgendwo sein. Er muss irgendwann ans Telefon gehen.
Leise schlüpfe ich aus dem VIP-Bereich. Zum Glück sind Jacke und Tasche noch dort, wo ich sie liegen gelassen habe. Ich halte den Atem an, als ich den dunklen Flur hinter den Séparées erreiche. Verbeugung, Berührung, Aufrichten; Verbeugung, Berührung, Aufrichten; Verbeugung, Berührung, Aufrichten. Ich versuche, das alles ganz schnell zu absolvieren, aber mein Körper braucht seine Zeit. Fordert sie ein, das hat er immer schon getan.
Klick-Klick. Jemand kommt durch den Flur auf mich zu. Ich haste zurück in meine Ecke im VIP-Bereich, hocke mich hin und halte das Handy ans Ohr gepresst.
Es klingelt. Es klingelt. Es klingelt.
Irgendein Handy klingelt im Club – ein blecherner Ton, der nur den Bruchteil einer Sekunde nach dem Klingelton in meinem Ohr erklingt. Ich lege erschrocken auf. Der Klingelton im Club hört sofort auf.
Zufall. Das muss ein Zufall sein. Es gibt hier jede Menge Leute mit jeder Menge Handys, die in jeder Minute Anrufe empfangen.
Um sicherzugehen, wähle ich erneut. Einen Moment Stille, in dem das Signal irgendwo durch das Weltall saust.
Aber es geschieht schon wieder. Dasselbe blecherne Klingeln im Club.
Erneut überkommt mich dieses wackelige, wellige Unterwassergefühl: Angst nagt an jedem einzelnen Körperteil, schiebt sich hoch in meinen Hals wie eine Faust – sie schiebt mich durch den Vorhang, aus dem VIP-Bereich heraus, schiebt mich weiter.
Riiing.
Einen Meter von mir entfernt: ein großer Mann, graues T-Shirt, gebräunte Haut, Muskeln – sein Rücken. Er tastet in seiner Tasche nach dem klingelnden Handy. In meinem Brustkorb hämmert es, hämmert, hämmert. Er hält das Telefon ans Ohr. «Hallo?»
Und dasselbe Wort, dieselbe Stimme dringt genau in diesem Moment aus dem Telefon, das ich ans Ohr halte. Er dreht sich um und schiebt eine Stripperin beiseite, die ihm die Schultern massiert hat.
Und dann sehe ich sein Gesicht.
Sein perfektes, kantiges, gutaussehendes Gesicht.
Das perfekte, kantige, gutaussehende Gesicht von Gordon Jones.
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Kapitel 30
In meinem Kopf dreht sich alles. Mit wie verrückt zitternden Händen drücke ich auf den kleinen roten Knopf, mit dem man die Gespräche beendet. Eine Sekunde lang wird alles schwarz. Und dann wird alles klar, glasklar, und ich kapiere, dass ich hier rausmuss. Ich muss es jemandem erzählen. Ich drehe mich um, ziehe die hochhackigen Schuhe aus und renne durch den VIP-Bereich, biege schnell um die Séparées und zum Ausgang am anderen Ende, von wo aus der Flur abgeht, in die fast völlige Dunkelheit, in den Schatten. Er ist hier. Er ist hier.
Gordon Jones: Traummann. Gentleman. Stinkreich. Mörder.
Ein Stück weiter – immer weitergehen – eine Tür, und dahinter geht es in einen anderen Flur mit abgehängter Decke, der zur Garderobe führt. Die Rettung. Riiing. Riiing. Ich erstarre.
Es ist mein Handy. Anchor. Der Name schreit mich vom Display aus an.
Ich gehe dran und unterbreche die Verbindung wieder. Sofort.
Riiiiiiiiiiiinnnng riiiiiiiiiiing – schon wieder. Er ist es. Ich nehme ab und lege schnell auf. Schalte das Handy aus, alles pocht und hämmert in meinem Körper, zieht sich zusammen, windet sich. Der Club dreht sich um mich, der lange, dunkle Flur kippt, schwankt. Und ich bin wie gelähmt – mein Hirn funktioniert nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welcher Richtung ich komme und welche Richtung mich direkt zurück zu ihm führt. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich ins bitterkalte Wasser eines Baches gefallen, genau wie damals als Kind – eiskaltes Wasser umspült mich jetzt. Ich ertrinke. Ich werde sterben. Oren ist nicht mehr da, um mich herauszuziehen. Gordon ist da. Und er wartet nur darauf, mich unter Wasser zu pressen.
Zitternd drücke ich die Klinken aller Türen – die meisten von ihnen sind abgeschlossen. Ein Wimmern versucht sich meiner Kehle zu entringen.
Und dann sehe ich ihn.
Er kommt vom anderen Ende des Korridors – aus derselben Richtung, aus der ich gekommen bin, von dort, wo der VIP-Bereich ist. Er folgt genau meinem Weg, kommt unaufhaltsam näher. In der Hand hält er sein Handy, das Gesicht gerötet und verzerrt. Ich presse meins
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