Schmetterlingsjagd (German Edition)
Form, die wir annehmen, ändert sich. Wir werden Mineralien, Sedimentschichten und nach Millionen von Jahren zu Stein; Nahrung für die Pflanzen, für die Sonne, die Luft. Wenn wir nicht sterben und sich unsere sterbliche Hülle nicht mit der Erde verbinden würde, gäbe es kein Leben mehr.
Noch mehr aus Malatesta’s Truhe: hochhackige Schuhe, viel zu hoch, rot, sie kratzen auf dem rutschigen Betonboden, ein schwarzer Kunstledermini, Netzstrümpfe.
Als ich fertig bin, bin ich nicht wiederzuerkennen. Und ich bin nicht sie. Ich bin jemand anderes – wieder – ein blinder Passagier, versteckt unter dicken Schichten Cremerouge, Mascara und wildgelocktem blondem Haar. Ich schaudere, verbeuge mich sechs Mal vor der kaputten Toilette – dabei muss ich fast würgen – und drei Mal vor dem Spiegel.
Juliet, wiederauferstanden. Brandneu.
Der schmierige Junge an der Garderobe schaut von seiner Motorrad-Zeitschrift hoch, als ich die Lobby des Tens betrete und mich verstohlen umschaue. Seine Augen werden größer, er kratzt sich am Kopf und beißt sich auf die Unterlippe, als ich an ihm vorbeigehe. In diesem neuen Körper ist es mir egal, dass er mich anstarrt. Es gefällt mir. Seine Blicke tasten meinen Körper ab wie lange Finger. Er überlegt, wie ich wohl darunter aussehe. Nackt. Wie es sich wohl anfühlen würde, mich zu berühren. Er beugt sich vor und beobachtet mich, wie ich vor der Tür stehe und tip tip tip, Banane klopfe, weil ich es tun muss. Weil es bestimmte Bedürfnisse gibt, die auch Juliet nicht außer Kraft setzen kann.
***
Ich schlüpfe hinein und drücke mich gegen die Wand, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Violettes Licht, samtig-dunkel wie unter Wasser. Die Musik hämmert überall, ein gleichmäßiger Puls. Zum Glück ist es im Club heute Nacht brechend voll. Ich lege Tasche und Jacke zusammengeknüllt in die Ecke.
Ein Bild blitzt auf: Die bleichen Gesichter der Männer, die ins Licht der Bühnenscheinwerfer starren. Sie werden auch eines Tages sterben. Alle. Ihre Krawatten werden schlaff auf einem Bügel in ihrem Schrank hängen, bis sie jemand ausräumt, sie zum Roten Kreuz bringt und sie dort in einem Plastiksack vor die Tür legt.
Ich muss den Umkleideraum finden – mit den Mädchen reden. Jetzt. Ich spähe durch die Dunkelheit und sehe, dass die Tür, die zum Pausenraum führt, versperrt ist: Ein riesiger Türsteher bewacht sie und schlägt mit der Hand den Takt zur Musik auf seinen Schenkel. Ich rücke die Perücke zurecht, drehe mich auf dem Absatz um und gehe schnell in die andere Richtung: Das könnte er sein. Der, der mich bedroht hat, der mich tot sehen will – und selbst in dieser Verkleidung wirke ich hier im Schatten womöglich verdächtig.
Ich muss nachdenken. Der VIP-Bereich liegt vor mir, und weil ich keine andere Wahl habe, gehe ich darauf zu, lasse meine Finger in den Spalt zwischen den Vorhängen gleiten und spähe hindurch. Ich kann niemanden sehen, schlüpfe hindurch und drücke mich in eine dunkle Ecke, hinter eine Reihe von Tischen, auf denen die glänzenden Aschenbecher stehen. Ich sauge die parfumgeschwängerte Luft ein und halte den Atem an. Was soll ich jetzt tun?
Aus einigen der Séparées dringen Stimmen. Hie und da kann ich ein Wort verstehen. Dazwischen immer wieder Stöhnen – «Oooohhh»; «der Beste, den ich je …»; «mehr wenn du …» Nicht mehr. Nichts Greifbares.
Ein oder zwei Minuten später kommt das kleine Mädchen mit den Locken aus einem der Séparées. Banknoten klemmen unter ihren Strapsen. Ich verbeuge mich und bete, dass sie sich nicht zufällig umdreht, bevor ich damit fertig bin. Drei Mal. Drei Mal sicher.
«Hey!», flüstere ich. Ich bin gerade fertig mit meinen Verbeugungen, und sie ist schon fast außer Hörweite. Aus der Dunkelheit meiner Ecke trete ich auf sie zu. Sie wirbelt herum.
«Ja?» Sie verlagert ihr Gewicht auf den anderen Fuß und bückt sich, um die Banknoten unter ihren Strapsen hervorzuziehen und sie mit einem Gummiband zusammenzubinden.
«Ich bin neu», sage ich. «Ganz neu.»
Sie richtet sich auf und wirft ihr Haar zurück. «Oh, hey. Ich heiße Glory.» Sie wirkt freundlich, mit Geld überschüttet.
«Ich heiße Juliet», antworte ich und muss mich schon wieder drei Mal verbeugen. Ich versuche, es kurz zu machen, beiläufig, damit es nicht auffällt.
Aber das tut es. «Geht’s dir gut?», fragt sie und kneift die Augen zusammen.
Meine Finger fliegen nach hinten, ich grabe sie
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