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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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Mal – die Röte schießt mir ins Gesicht, obwohl ich weiß, dass er mich sowieso nicht sieht –, und dann lasse ich eine Handvoll Kleingeld in den Hut zu seinen Füßen fallen.
    «Danke, Penelope», sagt er.
    Ich weiche zurück, zu überrascht, um zu antworten. Er lächelt mich zahnlos an, als ob er mich doch sehen könnte. Aber das ist unmöglich, er ist doch blind. Aber irgendwie … weiß er es einfach, genau wie er von Orens Einhorn-Leberfleck wusste.
    Und das tröstet mich – die Vorstellung, dass ein einziger Mensch vielleicht die Datenbank ist, die das gesamte Wissen der Welt speichert. Und dass er zufällig in Cleveland wohnt.
    Ich will mich schon umdrehen, da ruft er mir aus seiner erleuchteten Ecke hinterher. Über seinem Kopf sehe ich die Silhouetten von Insekten herumflattern. Seine Stimme klingt hell, dünn, eine Motte mit löchrigen Flügeln. «Er liebt dich, weißt du.»
    Die Stimme bleibt mir im Hals stecken, aber ich zwinge sie heraus, an dem würgenden Gefühl vorbei.
    «Wer … liebt mich?»
    Er antwortet nicht, sondern wippt immer weiter hin und her, hoch und runter. Das Licht hinter ihm blendet, es wimmelt vor Insekten. Das Gras an den Seiten des Bürgersteigs zittert. Und plötzlich verstehe ich. Mit klopfendem Herzen gehe ich zurück.
    «Sag ihm, er soll nach dem Zettel im Vogelbad sehen», sage ich und trete noch näher heran. Er riecht schwach nach Apfelsinen und summt, ohne zu antworten, leise vor sich hin, immer weiterwippend. «Das Vogelbad», wiederhole ich leise noch zwei Mal, damit es drei ergibt.
    Eine Minute stehe ich so da und warte, dann gehe ich weiter und bleibe nach sechs Gehwegplatten wie angewurzelt stehen; irgendetwas durchfährt meinen ganzen Körper. Es erreicht meine Zehen, und plötzlich kann ich mich nicht mehr bewegen.
    «Ich liebe ihn auch», verkünde ich mir selbst, dem Propheten, dem Gras. Ich atme die Worte ein, die jetzt in der Nacht verankert sind – ein Seil spannt sich zwischen uns, an dem ich mich am liebsten zurück zu Flynts Augen, seiner Bärenmütze und seinem Mund hangeln würde, Hand um Hand, wenn ich könnte, wo auch immer er sein mag.
    Ich gehe weiter, jetzt mit neuer Kraft. Motten flattern durch die Bäume, wie riesige Salzflocken zwischen den aufbrechenden neuen Knospen.
    Als ich schon fast an der Ecke des Häuserblocks angelangt bin, fliegt die verspätete Antwort des Propheten zu mir herüber: «Ich richt’s ihm aus», sagt er und summt wieder, sobald die Worte seinen Mund verlassen haben. Alles dreht sich in meinem Kopf, es klopft und hämmert wie wild. Aufgeregt. Erschrocken.

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 29
    Auf der Toilette einer Tankstelle, die einen Häuserblock vom Tens entfernt liegt, ziehe ich mich um.
    Tip tip tip, Banane. In den Toilettenräumen riecht es nach Tabak und Körpergeruch; ein Eimer mit schmutzigem Desinfektionsmittel steht in der Ecke, darin steckt ein Mopp. Ich atme durch den Mund.
    Ich manövriere mich in Sapphires Bustier hinein. Kaum habe ich den Reißverschluss zugezogen, da durchströmt mich wieder ihre Ruhe und Kraft. Die Träger fallen von meinen Schultern, ich umarme meine Brust, ziehe sie näher an mich heran und zeichne mit dem Zeigefinger drei konzentrische Kreise um mein Herz herum, damit der Irre unter der Haut aufhört zu hämmern. Ich ziehe einen breiten Streifen dunkelviolette Spitze, die ich im Malatesta’s geliehen habe, aus meiner Tasche, schlinge sie um meine Taille, lege mir eine Kette aus Glitzersteinen um den Hals und stecke den Pferdchenanhänger in das Bustier.
    Meine Haare binde ich zu einem festen Knoten und setze mir Seraphinas handgemachte Perücke auf. Sie juckt und hängt in langen blond gelockten Strähnen um mein Gesicht.
    Mit dem Kajal male ich mir dicke schwarze Striche um beide Augen, dabei sehe ich plötzlich Oren vor mir, wie er in meine Augen starrt, um meine Pupillen anzuschauen. Früher hat er immer gern im Dunkeln mit mir die Zähne geputzt, weil man dann beobachten konnte, wie die Pupillen sich erweiterten. Mir hat das immer Angst eingejagt – sie haben das ganze Grün seiner Iris geschluckt. Schwarze Löcher, die das Licht aufsaugen.
    Ein Lidschlag: Er ist fort.
    Es ist das Für-immer, das mir am meisten Angst macht. Das Für-immer des Todes. Ich spüre, wie ich zwischen den beiden Welten schwanke – Fleisch und Luft; Knochen und Staub.
    Ich erinnere mich an Mrs. Kim, meine Erdkundelehrerin aus der achten Klasse. Sie sagte: Wir sterben niemals ganz, nur die

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