Schmetterlingsjagd (German Edition)
Glieder Dinge taten, die sich meiner Kontrolle entzogen, wie zum Beispiel die kleine Elefantenfigur aus dem tibetischen Laden in Tower City zu klauen. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, dass ich sie hatte mitgehen lassen. Es fiel mir erst wieder ein, als ich gegen das kalte Fenster des Polizeiwagens gelehnt saß und versuchte, unsichtbar zu werden, als sein heißer Atem mein Ohr vernebelte und er höhnte: Reiß dich zusammen. Ich versuchte, alles zu erklären, ich haspelte: Ich wusste es nicht, es tut mir so leid, ich wusste gar nicht, was ich tat. Er starrte mich nur an, als wäre ich eine unglaubliche Idiotin. Noch so eine Sache, und du wanderst in den Jugendknast. Dann kapierst du’s vielleicht endlich .
Mario greift nach dem Schmetterlingsfigürchen, das immer noch auf dem Tisch glitzert. Die Nachmittagssonne hüllt alles in butterblumengelbes Licht. Er reicht sie mir. «Für dich», sagt er. «Danke, dass du so cool bist.»
Ich nicke und schweige, und das war’s. Unser unausgesprochenes Abkommen. Er dreht sich um, um nach etwas in einer Tüte zu suchen, die auf dem Boden steht, und plötzlich durchzuckt mich ein Impuls, wild und unersättlich. Meine Hand schießt vor zum Tisch, meine Faust umschließt die Kette mit dem Pferdeanhänger, und ich gehe schnell und abrupt weiter. In der einen Hand halte ich den Schmetterling, in der anderen die Kette, und ich gehe an Tischen voller Spezialitäten, Stoffen und Bordüren und kleinen Tierchen aus Holz und Glas und Metall vorbei. Tische, auf denen sich Baseballandenken und ausgeblichene T-Shirts und alte Hüte aus Satin und Spitze türmen, aber ich kann nur noch an sie denken. Sapphire.
Irgendwas brennt kleine Löcher in mein Herz. Ich frage mich, ob das, was mich zu dem Schmetterling hingezogen hat, dasselbe ist, was auch ihr so gefallen hat: nicht nur sein dunkler, intensiver Glanz, sondern auch dass er seine Flügel zusammengefaltet hat, als ob er gerade erst gelandet wäre. Und zwar nicht grandios und stolz, sondern eher still und einsam. Es muss eine Landung mit gesenktem Haupt gewesen sein, eine Jemanden-oder-etwas-mitten-in-der-Nacht-verlassen-Landung.
Ob sie wohl irgendjemand irgendwo vermisst? Irgendjemand muss es doch geben, auch wenn sie keine Angehörigen hat, auch wenn die Stripperinnen vom Tens nicht einmal von ihr, sondern nur von ihren Sachen gesprochen haben. Jetzt beginnt mein Hirn überzusprudeln, genauso wie mein Herz, und ich kann die Gedanken nicht stoppen, die wie klebrige schwere Schneeflocken hinabfallen und sich dick und kalt über alles legen.
Ob Oren sich wohl gefragt hat, ob er vermisst würde, als er langsam davonglitt, fort von uns, fort von allem, ins Nichts?
Ich lege mir die Kette um den Hals, das kleine Pferdchen kalt an meinem Brustbein, und drücke den Schmetterling in meiner Hand. Neun, neun, sechs. Noch mal. Neun, neun, sechs. Noch einmal. Neun, neun, sechs.
Was geschieht mit den Menschen, um die niemand trauert? Wenn es niemanden interessiert, was sie fühlten, als sie starben? Ob es sich wie eine Million Lichtpunkte oder unzählige Arien singende Münder anfühlte oder einfach wie gar nichts, wie eine Welle, die sich bis hoch zu den Sternen erhebt und die Welt mit sich zieht, in die unermessliche Weite von allem, das immer und immer weiter geht.
Jetzt besitze ich etwas von Sapphire, etwas, das sie zurück gelassen hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl, damit Verantwortung für sie übernommen zu haben: für ihr Leben, für ihren Tod.
Wir kommen allein auf die Welt, und wir sterben allein. Das habe ich irgendwo in einem Buch gelesen. Als Oren starb, habe ich oft wach gelegen und darüber nachgedacht: Über das Universum, das die Hoffnung aus uns heraussaugt, Seele für Seele, bis wir so ausgetrocknet sind, dass wir verhungern, alle zusammen, und der Himmel nimmt dann unsere Knochen und zermalmt sie zu Staub, und dann beginnt alles von neuem. Das ist der Zyklus des Werdens und Vergehens. Millionen und Milliarden Dinge, die wir nicht im Geringsten kontrollieren können. Aber so kann es einfach nicht sein. Kann es einfach nicht.
Obwohl ich nur vier Stände besucht habe statt neun – jede einzelne meiner Zellen schmerzt bei der Zahl Vier –, verlasse ich den Flohmarkt und stolpere in einer Art Nebel auf den Bürgersteig. Ich fühle mich gefangen zwischen den Welten, schwindelig. Hey, Sapphire, kannst du mich hören? Wo auch immer du gerade bist, ich hoffe, es geht dir gut.
Ich drücke den Schmetterling
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