Schmetterlingsjagd (German Edition)
noch fester, drei Mal. Geht es dir gut?
Ich schaue hoch zum Himmel. Keine Antwort von oben, keine Antwort von irgendwoher. Es beginnt nur leicht zu nieseln.
Vielleicht ist das die Antwort.
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Kapitel 4
In dieser Nacht träume ich, dass blauschwarze Schneeflocken vom Himmel fallen und sich wie Asche auf die Erde legen. In meinen Träumen bin ich jetzt ständig bei Oren; wir gehen am Ufer eines großen kalten Sees entlang. Die Bäume tragen keine Blätter mehr. Dann, gerade als ich ihm meinen Standpunkt zu etwas klargemacht habe, wende ich mich zu ihm um, und er ist fort, und ich begreife, dass der See ihn geschluckt hat.
Und in diesem Traum bin ich nicht verblüfft, dass das passiert ist, sondern nur wütend auf mich selbst, dass ich seine Hand nicht ein wenig fester gehalten habe.
Die Asche fällt auf meinen Kopf, und meine Hände sind damit bedeckt. Der Traumsee, der meinen Traumbruder geschluckt hat, ist voll davon, Oren ist ebenfalls voll davon. Seine Traumaugen. Seine Traumzunge. Seine Traumkehle.
***
Sapphires Schmetterlingsfigur steht auf meinem Nachttisch. Sie schaut zu, wie ich mich anziehe: dunkle, hochgekrempelte Jeans, die Pferdekette, die unter einem viel zu großen verfilzten Pullover baumelt, der mal meiner Mutter gehört hat, ein dunkelblauer Strickhut, den ich mir tief über die Ohren ziehe. Ich versuche, meine Ponysträhnen darunter zu verstauen. Aber dann schaut meine Narbe hervor, kreideweiß. Ich befreie die Strähnen wieder. Meine Haare sind dunkel und haben gespaltene Spitzen und schreien geradezu nach einem Schnitt, zu dem ich mich nicht durchringen kann. Ich bin einfach nicht so gut im Loslassen, glaube ich.
Ich sollte jetzt meine Hausaufgaben für die Einführung in die Wirtschaftswissenschaften machen – das Wahlfach, das mein Vater für mich ausgesucht hat. Ich sollte eigentlich die grundlegenden statistischen Analysen von Inflation und Arbeitslosigkeit untersuchen und anwenden, aber darauf kann ich mich gerade gar nicht konzentrieren. Nur Sapphire ist noch in meinem Kopf, der Augenblick ihres Todes. Ich glaube nicht, dass das, was geschehen ist, Zufall war – ich glaube nicht, dass es nur verdammtes Pech war, wie Mario es ausdrücken würde.
Ich gehe zurück nach Neverland, zurück zu dem kotzegelben Haus mit den Gänseblümchen. Ich weiß noch nicht genau, was ich tun werde, wenn ich dort bin, aber ich muss einfach dahin. Ich muss sie zurückholen, wer auch immer sie war.
***
Ich brauche eine Weile, bis ich das Haus wiederfinde. Die aufgemalten Gänseblümchen wirken bei Tageslicht noch greller. Hier ist niemand – keine Polizisten, keiner schnüffelt hier herum und versucht, alles wieder geradezubiegen.
Vorsichtig gehe ich zur Haustür, die mit Absperrband gesichert ist. Ich klopfe tip tip tip, Banane und beiße mir neun Mal leicht auf die Zungenspitze, bevor ich den Türknauf berühre: abgeschlossen. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte. Ich schleiche die Einfahrt entlang zur Hintertür, und das Herz hämmert mir in der Brust dabei. Ich komme an dem zerschlagenen Fenster vorbei, das ebenfalls mit Absperrband verklebt ist, und sehe, dass man die Kugel aus der Mauer entfernt hat. Eine neue, kranke Angst steigt in mir auf. Ich will mich umdrehen. Aber ich tue es nicht.
Ich stehe vor der Hintertür. Sie sieht nicht besonders solide aus, so, als ob es leicht wäre, durch sie hindurchzuschlüpfen. Direkt neben dem Türknauf ist ein Stück Holz abgebrochen, ich bearbeite es mit den Fingern. Es splittert ganz leicht ab.
Plötzlich packen mich zwei starke Hände von hinten an der Schulter.
Unwillkürlich schreie ich auf und wirbele herum, bereit zuzuschlagen, bereit wegzulaufen. Ich habe solche Angst, dass ich zuerst gar nicht zuordnen kann, was ich da sehe – alles ist nur bruchstückhaft und verschwommen und Bär und Zähne und Junge .
Dann erkenne ich, dass die Hände auf meiner Schulter einem Typen mit Bärenmütze gehören. Es ist der Junge vom Flohmarkt, der Junge, der mich im Lauf angerempelt und in Marios Verkaufstisch gestoßen hat. Seine Augen verengen sich für eine Sekunde und weiten sich dann. Er muss an meinem Blick gesehen haben, dass ich ihn erkannt habe.
«Was tust du hier?», fragt er gebieterisch, als ich mich aus seinem Griff befreie.
«Ich – ich tue hier gar nichts. Was tust du denn?», fauche ich zurück. «Du bist doch der – warum schleichst du …» Meine Worte überschlagen sich, verwirrte Bruchstücke.
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