Schmetterlingsjagd (German Edition)
schön.» Ich meine es auch so und will mit den Fingern das Glas, diese herabgefallenen Sterne berühren, bevor sie wieder verschwinden.
«Hey, lass das!» Er zieht meine Finger weg. Seine Hand ist kühl und groß. Beschämt stecke ich meine Hände in die Taschen meines Sweatshirts.
«Siehst du?» Er zeigt mir die Handfläche seiner eigenen Linken, die voller kleiner Schnittwunden ist. «Ich habe mich total geschnitten. An der Hand zu bluten ist gar nicht so lustig, wie du vielleicht denkst, ob du’s glaubst oder nicht. Aber das Künstlerleben ist voller Prüfungen! Wahrscheinlich sind das sozusagen meine Kampfwunden.»
Meine verletzte Hand pocht in meiner Sweatshirttasche. Der ganze Arm fühlt sich plötzlich wie zerschnitten an – scharf und wund. Er weiß nicht, dass ich meine eigenen Kampfwunden davongetragen habe – die Sorte Kampfwunden, die man bekommt, wenn man aus Versehen an die Frontlinie stolpert. Die Erinnerung an die Kugel, die Explosion – überall Glas – lässt mich schaudern. «Kampfwunden, was? Und wogegen kämpfst du?»
Er zögert eine Sekunde. Dann hellt sich seine Miene auf. «Mein edler und einsamer Kampf für die Rechte des Mülls!» Er streckt mir seine unversehrte Hand hin: «Ich heiße übrigens Flynt.»
«Lo.» Ich ignoriere seine Hand. Händeschütteln ist etwas, das Erwachsene tun, und Therapeuten, wenn sie dich zum ersten Mal sehen und auszudrücken versuchen, dass sie dich als Mensch respektieren . Ich muss es schließlich wissen: Ich war in den letzten drei Jahren schon bei einem halben Dutzend Therapeuten, darunter: Dr. Janice «nenn mich doch Janice» Weiss, Dr. Aaron «hier kannst du dich sicher fühlen, Penelope» Machner und zuletzt Dr. Ellen Peech. Dr. Peech war direkt, überarbeitet und ganz offensichtlich total erschöpft. In der zweiten Sitzung hatte sie mir schon Zoloft verschrieben und mich in das Zombieland geschickt, wo Mom wohnt. Zwei Wochen lang fühlte ich mich stumpf und wie tot, dann entschied ich, dass die Kanalisation die Pillen dringender brauchte als ich, und spülte sie die Toilette herunter.
Mom und Dad haben das natürlich nicht gemerkt. Sie merken nie etwas. Gar nichts.
Flynt sagt nichts dazu, dass ich seine Hand zurückweise. Er steckt sie einfach in seine Manteltasche und verbeugt sich erneut. Er lächelt immer noch.
«Also, Flynt», sage ich, «du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was tust du hier? Abgesehen davon, dass du für die Rechte des Mülls kämpfst?»
Er schaut ein paar Sekunden lang zum Himmel hoch. Dann antwortet er: «Ich bin Künstler. Aber ich habe kein Geld, um mir den ganzen Kram, den man dazu braucht, kaufen zu können.» Er zuckt mit den Schultern. «Also suche ich mir die Materialien in dieser unseren auf ewiglich verschwenderischen Heimat Neverland zusammen.»
So, wie Flynt Neverland sagt, klingt es beinahe wie Himmel . «Guck mal. Eine tolle Ausbeute heute Morgen.» Er dreht sich um und lässt einen Sack vor meine Füße fallen. Er ist immer in Bewegung und hält nie still.
«Mach ihn auf. Schau’s dir an. Der Laden schließt um drei.» Er wippt auf den Fersen hin und her.
Ich ziehe eine Keramiklampe heraus, die einen Sprung in der Mitte hat, eine Tüte voller blauer Glassplitter, ein Holzbrett, aus dem rostige Nägel wie Grabsteine herausragen, und etwas, das aussieht wie ein riesiger zerbeulter Bilderrahmen.
«Na? Wie findest du das?» Er lächelt wieder, zupft erst an einer seiner hellen Dreadlocksträhnen und dann an den ausgefransten Löchern seiner Hose herum. Mir gefällt, wie er sich anzieht, dass seine Klamotten zerknittert sind und nicht zusammenpassen und dass er auf seine Mantelärmel bunte Flicken genäht hat. An ihm, an seinem schlaksigen Körper, sieht das alles so richtig aus. Total richtig. Und weich. Nicht so wie bei den Jungs in der Schule – gebügelte Jeans und gegelte Haare und alles aufeinander abgestimmt. Nur kalte, saubere, scharfe Linien.
«Das ist cool», sage ich und meine es auch so. Ohne darüber nachzudenken, befühle ich die rostigen Nägel und muss mich zur Ordnung rufen. Flynt beobachtet mich ganz genau, und ich werde rot. «Was willst du denn damit machen?»
«Weiß noch nicht. Irgendwas wild und weltbewegend Originelles. Oder, weißt du, vielleicht etwas so Hässliches und Schreckliches, das ich es niemals ans Tageslicht lasse.»
Wir verstauen die Gegenstände wieder im Sack. Dabei knien wir nebeneinander auf dem Betonboden. «Wohnst du hier in der Gegend,
Weitere Kostenlose Bücher