Schmetterlingsjagd (German Edition)
Lo?»
Ich schaue zu Boden, plötzlich wird mir sehr bewusst, dass ich es nicht tue. «Nein. Ein bisschen weiter weg.»
«Wo ist ein bisschen weiter weg?», hakt er nach.
«Lakewood. Aber mit dem Bus kommt man direkt hierher. Ist ganz einfach.» Meine Wangen sind noch immer ganz heiß.
«Da war ich noch nie. Ich komme eigentlich kaum aus Neverland heraus. Überhaupt nie, eigentlich», sagt er. «Das ist so eine Art eherne Regel.» Ich schaue zu ihm hoch und sehe, dass er ebenfalls rot geworden ist.
«Du kommst hier nie raus?», wiederhole ich. «Wird das nicht irgendwann … langweilig?» Gerade noch rechtzeitig kann ich das Wort deprimierend vermeiden. Ich schaue mich um und sehe die zerstörte Landschaft Neverlands: überall nur Beton und Beliebigkeit.
«Eigentlich nicht.» Er zuckt die Achseln. «Das hier ist mein Zuhause, zumindest für den Augenblick. Und Neverland ist toll.»
Offenbar ziehe ich eine Grimasse, denn Flynt fügt hinzu: «Ehrlich, das stimmt. Es gibt eine Menge cooler Dinge hier. Du hattest nur noch nicht den richtigen Stadtführer.» Zwar verschwindet das Lächeln nie aus seinem Gesicht, aber seine Augen sind scharf und auf der Hut, wie die Augen eines Tieres. «Also, Lakewood-Lo, meine Frage hast du auch nicht beantwortet: Was tust du in dieser Gegend, warum spazierst du hier entlang und fummelst an kaputten Türknäufen herum? Warst du –» er zögert einen Augenblick – «schon mal hier?»
Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen, ich spüre das einfach. Stattdessen stehe ich auf und klopfe mir den Schmutz von den Knien. Flynt richtet sich ebenfalls auf und beobachtet die Staubwolke, die sich zwischen uns ausbreitet. «Äh, also, ich habe eine alte Freundin – oder besser gesagt, ich hatte eine alte Freundin. Sie ist vor ein paar Tagen umgebracht worden. Ich habe ein Foto von ihr in der Zeitung gesehen, daneben war auch ein Foto von ihrem Haus.» Ich zeige auf das kotzegelbe Haus neben uns. «Irgendwie hatte ich das Gefühl, hierherkommen und ihr die letzte Ehre erweisen zu müssen, weißt du?»
Die Aufregung lässt eine Antwort aus meinem Mund fließen, auf die ich mich dummerweise nicht vorbereitet hatte. Aber ich halte den Pferdeanhänger fest in der Hand und rede hastig weiter, spucke ein erfundenes Detail nach dem anderen aus, ganz wie sie mir in den Sinn kommen: «Wir waren ganz eng befreundet, als wir noch klein waren, aber dann ist sie weggezogen, und meine Eltern haben mir verboten, hierherzukommen und sie zu besuchen … und jetzt ist sie, na ja, weg.» Blickkontakt vermeiden. Tief einatmen.
Flynt ist still geworden. Er zupft wieder an einer Dreadlock und lächelt nicht mehr.
«Hey, das mit deiner Freundin tut mir echt leid. Ich hab davon gehört. Und, na ja, gelesen hab ich auch davon.» Er schaut zurück zu den Müllcontainern. «Es ist echt hart. Die Leute sind durchgeknallt, besonders hier in der Gegend. Glaub mir. Ich kenne die meisten.»
«Ja, danke», sage ich. Und dann platzt es plötzlich aus mir heraus: «Das Schlimmste ist, dass die Polizei sich einen Dreck darum schert. Die haben die Sache einfach abgeschrieben. Die untersuchen den Fall nicht mal. Jedenfalls nicht richtig.»
Flynt schweigt. Mein Ausbruch ist mir peinlich, und ich beiße mir auf die Lippe und wende mich ab.
Stille: Die Sekunden fallen wie Ziegelsteine vom Himmel und bilden eine Mauer zwischen uns. Ich ziehe meine dunkelblaue Jacke fester um mich.
«Ist wohl besser, wenn ich nach Hause gehe», sage ich, und Flynt nickt.
«Ich begleite dich zum Bus», bietet er an und hakt sich bei mir ein, als wären wir alte Freunde. Ich ziehe meinen Arm weg. Ich bin es nicht gewohnt, berührt zu werden, schon gar nicht von einem Jungen. Die wenigen Male waren zufällig – als mich zum Beispiel J. R. Miller auf dem Ball der sechsten Klasse um die Taille fasste, weil er mich mit Grace Hull verwechselt hatte, oder in der Achten, als Micah Eisenberg beide Hände auf mein Kreuz legte und mich wegschob, damit er den entscheidenden Schmetterball im Volleyballturnier machen konnte. Und das zählt ja wohl kaum.
Flynt versucht nicht mehr, mich zu berühren, aber beleidigt scheint er auch nicht zu sein. Wir spazieren durch Neverlands Landschaft aus Schlaglöchern und Müll.
«Du solltest irgendwann mal wiederkommen. Zufällig kenne ich da einen echt coolen Typen mit einem fabelhaften Mützengeschmack, der dir zeigen kann, wie toll dieses Dreckloch von einer Stadt sein kann», sagt Flynt, als wir schon fast
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