Schmetterlingsjagd (German Edition)
und stelle mir vor, sie zu sein, dass wir zu einer einzigen, realen, lebenden Person verschmelzen, die ihren täglichen Verrichtungen nachgeht, sich für die Arbeit fertig macht. Und meine Hand, die sich um den Griff ihres Schließfaches gelegt hat und es öffnet, ist auch ihre Hand, die mir Einlass gewährt.
Im Schließfach liegt ein Täschchen mit Schminksachen. An der Innenseite der Tür klebt eine schwarz-weiße Zeichnung von einem fliegenden Vogel. Darunter hängt ein kleiner Zettel, sauber in Druckschrift geschrieben und schattiert.
Ich liebe dich, Sapphire.
Der Zettel ist unterschrieben mit Bird , Vogel.
Meine Finger fühlen sich an, als ob sie gleich abfallen müssten. Ich lege das Schminktäschchen in meine Leinenhandtasche mit den Ringelblumen darauf. Das Täschchen ist dunkelblau und hat einen violetten Reißverschluss. Ich habe das Gefühl, dass es für sie oder von ihr gemacht wurde. Als ob sie sich selbst in der Nacht zu Stoff gewoben und dann, als sie starb, langsam in viele kleine Teilchen aufgetrennt hätte, damit sie niemals vollständig verschwinden würde.
Ich lasse die Vogelzeichnung, wo sie ist, nehme aber den Zettel an mich und stecke ihn vorsichtig in meine Tasche.
«Die Kleine hat das Zeug alle zehn Minuten aufgetragen», lacht Marnie. «Nicht mal nach der Arbeit hat sie sich abgeschminkt.» Sie wendet sich an die anderen Mädchen. «Habt ihr Sapphire jemals ungeschminkt gesehen?»
«Nein», sagt Lucy. «Wir haben immer Witze gemacht, dass sie heimlich ein grauenhaftes Monstergesicht unter ihrer Schminke versteckt. Da hat sie immer mitgespielt.» Sie seufzt, und ihre Stimme wird schwer: «Sie konnte ganz schön lustig sein.»
«Es hätte nicht sie treffen dürfen», wirft Randi mit plötzlicher Heftigkeit ein. Sie hat ihre weißen Zähne entblößt, und gegen ihre dunkle Haut strahlen sie hell. Sie schaut mich im Spiegel böse an, als ob ich irgendwie daran schuld wäre. «Es ergibt einfach keinen Sinn. Sie hatte Klasse, verstehst du?» Sie schüttelt den Kopf. «Sie hat den Typen da draußen keine Extras erlaubt, auch nicht für hundert Mäuse, sie ist nie ausgegangen mit den Leuten aus dem Club, auch nicht mit den Stammkunden. Nicht mal mit den Türstehern . Ich kann kaum glauben, dass es erst eine Woche her sein soll …»
«Ich auch nicht», nickt Marnie. «Kommt mir vor, als sei sie schon eine Ewigkeit fort.»
In meinem Kopf pocht es leicht. All diese Geräusche, das heiße, grelle Licht und die Gerüche, klebrig-süßes Parfüm und Haarspray. «Hatte sie – hatte sie vielleicht einen Freund?»
Ein paar Mädchen zucken mit den Schultern und schauen sich gegenseitig an.
«Hat sie nie von erzählt. Sie hat sich ganz schön bedeckt gehalten, verstehst du?», sagt Randi.
Also war sie nett und großzügig und verantwortungsbewusst und verschlossen. Ich muss an den Zettel von Bird denken. Vielleicht ihr Freund? Oder ihre beste Freundin? Jedenfalls jemand, der sie geliebt hat.
Und warum interessierte sich dann niemand für ihre Leiche?
Ich werfe einen Blick auf mein Handy: Es ist fast halb ein Uhr nachts. In sechs Stunden und achtzehn Minuten muss ich aufstehen, um in die Schule zu gehen. Die ganze Schulangelegenheit kommt mir noch absurder vor als sonst.
«Hey, danke für eure Hilfe», sage ich. «Ich weiß das zu schätzen, wisst ihr?»
Marnie fragt: «Und wann fängst du hier an?»
«Oh. Ja. Ich muss noch mit …» – fast hätte ich gesagt: mit Schnauzbart – «… dem Geschäftsführer darüber reden. Aber ihr wart echt klasse. Wirklich.»
«Ja, kein Problem.» Marnie beugt sich vor, langt nach einer Schachtel Streichhölzer auf dem langen Tisch und zündet sich eine Zigarette an. «Man sieht sich dann.»
So leise wie möglich klopfe ich tip tip tip, Banane , bücke mich, um mir in dem niedrigen Flur nicht den Kopf zu stoßen, und gehe zum Ausgang. Durch die Dinge, die ich erfahren habe, fühle ich mich gestärkt, mir geht’s richtig gut. Ich hab’s geschafft. Ich bin gar nicht durchgedreht, jedenfalls nicht richtig. Ich habe mich ganz normal verhalten.
Auf meinem Weg durch den Club fällt mir ein silbriges Blinken auf. Dort hinten liegt der VIP-Bereich, den habe ich noch nicht gesehen. Er ist im hinteren Teil des Clubs versteckt, mit rotem Teppich ausgelegt und steht voller Marmortische. Auf jedem einzelnen befindet sich ein feiner, üppig verzierter silberner Aschenbecher. Der Bereich ist mit Samtkordeln abgesperrt.
Und ich kann noch nicht gehen.
Weil ich
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