Schmutzige Haende
Vecchios Archiv.
In den durchlaufend nummerierten Zinktruhen schlummerten die Dokumente.
Der Nummernschlüssel befand sich in Vecchios Adressbuch.
Das Adressbuch gehörte ihm.
Jahrelang hatten sich die wichtigen Leute in Italien gefragt, wo zum Teufel Vecchio sein Archiv versteckte.
Jahrelang hatten die Herren Niemand, die sich für die Herren der Welt hielten und auf Vecchios Befehl sprangen wie Kastanien in der Pfanne, beträchtliches Kapital in die Suche nach dem Archiv investiert.
1975 hatte man in einem Souterrain in der Via Appia ganz zufällig Koffer voller Dokumente gefunden, die sensationelle Enthüllungen versprachen.
Doch als die Zuständigen einen Blick darauf warfen, offenbarten sich die Dokumente als Altpapier. Vecchio hatte einen beträchtlichen Sinn für Humor.
Die echten Dokumente waren unterwegs. In den Laderäumen der Lkws der Firma, die einem vertrauenswürdigen Strohmann gehörte, wurden sie von einem Ort zum anderen kutschiert. Ein mobiles Archiv. Für den Rest sorgte Vecchio mit seinem beachtlichen Gedächtnis.
Vecchio hatte vierzig Jahre gebraucht, um das Material zu sammeln. Den Kern bildeten, wie Vecchio ihm erklärte hatte, Dossiers und Datensammlungen der OVRA, der Geheimpolizei Mussolinis.
„Eine äußerst effiziente Truppe“, hatte er mit schiefem Grinsen hinzugefügt.
In seiner Sprache bedeutete das, dass er in gewisser Weise dazugehört hatte.
Aber: Was war Vecchio nicht alles gewesen?
Ein Partisan mit dem Decknamen „Erzengel“, der bei der Befreiung Italiens mitgewirkt hatte.
In jungen Jahren ein Beamter im Innenministerium.
Ein Lieblingsschüler von James Jesus Angleton in der Spionageabwehr, die sich in Langley – als die CIA noch OSS hieß – mit der kommunistischen Unterwanderung in den westlichen Demokratien beschäftigte.
In reiferen Jahren ein Beamter im Innenministerium.
Ein Sammler von historischen mechanischen Spielautomaten.
Vecchios und Scialojas Wege hatten sich in der Zeit gekreuzt, als Scialoja einer Bande von römischen Kriminellen auf den Fersen war. Vecchio protegierte sie beziehungsweise erwies ihnen Gefälligkeiten, wofür er Gegenleistungen erhielt.
Beim ersten Gespräch von Angesicht zu Angesicht hatte sich Vecchio als „treuer Diener des Staates“ vorgestellt. Und hatte hinzugefügt: „… was nicht ausschließt, dass ich im Grunde ein Mann bin, den es gar nicht gibt, der ein Büro leitet, das es nicht gibt.“
Scialoja hatte ihn zu verhaften versucht.
Vecchio hatte es ihm heimgezahlt.
Scialoja war ein menschliches Wrack geworden.
Vecchio hatte ihn wieder aufgerichtet. Und ihn als seinen Erben eingesetzt.
Jetzt suchte Scialoja in diesen Unterlagen einen Namen.
Vecchio hatte vierzig Jahre lang gebraucht, um diese riesige Menge an Informationen zusammenzutragen.
Und zwei Monate, um die wichtigsten auszuwählen.
Jetzt bestand das Archiv aus Ciccio eins und Ciccio zwei.
„Das ist alles? Nicht mehr? Wie viele Kisten sind das? Vierzig? Fünfzig?“
„Sechsundfünfzig. Versuchen Sie, die symbolische Bedeutung der Zahl zu erraten …“
„56? Der Untergang der kommunistischen Illusion? Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Sie ein doppeltes Spiel spielen?“
„Ein doppeltes, dreifaches, vierfaches und vielleicht sogar noch mehr. Jedenfalls nicht mehr und nicht weniger als unbedingt nötig.“
„Und wo ist der Rest? Wo ist der gelandet? In anderen Lkws? In anderen Lagern?“
„Den Rest gibt es nicht mehr!“
Scialoja konsultierte das Adressbuch. Er suchte die Kiste mit der Nummer 13. Die nummerierten Mappen waren perfekt geordnet. Neben den Aufschriften befanden sich hin und wieder Notizen in Vecchios Handschrift.
Der Name, den er suchte, stand in dem dritten Ordner. Angelino Lo Mastro. Scialoja prägte sich die wichtigen Details ein. Er musste so bald wie möglich mit ihm einen Kontakt herstellen. Er legte den Ordner zurück. Schneller als erwartet war er fündig geworden.
– Brauchen Sie noch was, Herr Doktor?
Roccos Stimme. Der Hustenanfall eines starken Rauchers. Eines Tages, bald schon, würde er ihn ersetzen müssen. Er hatte Maßnahmen getroffen, das Material digital zu sichern. Aber nicht einmal während langer einsamer Nachmittage war es ihm gelungen, die Karteikarten zu speichern. Sie sich endgültig anzueignen.
Aber er konnte sich nicht entscheiden.
Dieses Archiv der Abscheulichkeiten löste bei ihm eine fast mystische Angst aus.
– Ich bin fertig, Rocco.
Auf dem Rückweg fand er sich plötzlich vor
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