Schmutzige Haende
Massaker geben. Das alles war inakzeptabel. Diskret, aber unmissverständlich und entschieden hatte man den alten Clans erlaubt, drohend das Haupt zu erheben. Die militärische Vorherrschaft Cutolos und seiner Anhänger wurde von einer mit Volldampf betriebenen und intelligenten Gegenoffensive infrage gestellt. Seine Männer wurden der Reihe nach dezimiert. Jetzt war Settecorone dran.
Mit der Kippe zündete sich Stalin eine neue Zigarette an. Wie lange brauchte dieser Ciro ’o Russo bloß? War er schon hineingegangen? Dem Informanten zufolge war der Verräter allein, er mochte zwar ein guter Schütze sein, aber mit dem Überraschungsfaktor auf ihrer Seite hatte er eigentlich keine Chance.
Er hörte das Echo eines Schusses. Erledigt, sagte sich Stalin und wollte schon in seinen Land Rover steigen. Dann hörte er einen zweiten Schuss. Dann einen dritten. Und einen Schrei. Stalin entsicherte die Kaliber 22 und lief im Zickzack zum Gebäude. Noch ein Schrei. Die Tür stand halb offen. Stalin ging hinein. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Das Bauernhaus war äußerst luxuriös eingerichtet. Zwei Diwane, ein kleiner Fernseher, Teppiche, ein kitschiges Aquarell mit einem Hafen und dem Vesuv im Hintergrund. Stalin bot sich ein eindeutiger Anblick: Der Verräter war tot. Ein Loch mitten in der Stirn. Aber der Informant war ungenau gewesen. Da waren noch eine Frau und ein Junge. Die Frau lag im Sterben. Sie war noch jung, ein wenig verlebt, sie jammerte leise, und ein resigniertes Zittern durchlief ihren Körper. Der Junge, halb ohnmächtig, rieb seinen Kopf. Er war ungefähr dreizehn, vierzehn Jahre alt. Groß, dünn, dunkel. Ciro ’o Russo fluchte, er versuchte sich die Klinge eines kleinen Messers aus dem linken Oberschenkel zu ziehen. Auf seiner kakibraunen Hose breitete sich ein großer Blutfleck aus.
– Dieses Arschloch. Bring ihn um, Rosse’, bring ihn um und hauen wir ab!
Stalin versuchte sich ein Bild zu machen. ’O Russo war eingedrungen und hatte Settecorone kaltgemacht. Er hatte nicht mit der Anwesenheit der Frau und des Jungen gerechnet. Instinktiv hatte er auf die Frau geschossen. Der Junge hatte sich auf ihn gestürzt und ihn am Schenkel verletzt. ’O Russo hatte sich von ihm befreit und ihn an die Wand gestoßen. Der Junge hatte Mut bewiesen.
– Bring ihn um, verdammt noch mal, mir ist die Pistole runtergefallen, bring das Arschloch um!
Der Junge war endlich aufgestanden. Er schwankte, konnte kaum klar sehen. Ciro ’o Russo schrie und fluchte. Stalin hob den Revolver des Camorrista auf. Die Frau jammerte nicht mehr. Aus weit aufgerissenen Augen betrachtete sie die Decke. Grünen Augen.
Stalin ging zu dem Jungen und zeigte auf die Frau.
– Deine Mutter?
Der Junge schüttelte den Kopf.
– Worauf wartest du denn noch? Schieß, du Trottel, und hauen wir ab.
Stalin legte dem Jungen den Zeigefinger an die Gurgel und zwang ihn, ihn anzusehen. Er hatte himmelblaue Augen. Verzweifelte Augen. Stalin Rossetti verabscheute Märtyrer und Helden. Aber einen Kämpfer erkannte er auf den ersten Blick. Dieser Junge war ein geborener Kämpfer. Dieser Junge verdiente es zu leben.
Stalin reichte ihm den Revolver von Ciro ’o Russo.
Brüllend stürzte sich der Camorrista auf sie.
Der Junge schoss. Ciro ’o Russo drehte sich um die eigene Achse, fiel jedoch nicht hin. Der Junge schoss noch einmal, immer wieder. Als das Magazin leergeschossen war, nahm ihm Stalin vorsichtig die glühende Waffe aus der Hand.
– Wie heißt du?
– Pino. Pino Marino.
– Komm mit, Pino Marino.
Der Junge senkte den Kopf. Und begann zu weinen.
Zehn Jahre später
Herbst 1992
Dafür ist die Cosa Nostra zuständig
Ein paar Tage nach der Ermordung des Steuereintreibers Salvo war Zu’ Cosimo in einen Bungalow in der Nähe des Strands gezogen. Und zwar deshalb, weil der Ort sicher und Jod, wie er behauptete, in einem gewissen Alter ein Segen war. Offiziell war Herbst, aber Sizilien schien nichts davon zu wissen, die Sonne versengte wie immer Felder, Städte, Menschen und Tiere. Zu’ Cosimo ging niemals an den Strand. Ein ausgeklügeltes Staffelsystem erlaubte ihm, rasch den Ort zu wechseln und im Falle unerwünschter Begegnungen unterzutauchen. Hin und wieder brachte ihm ein absolut vertrauenswürdiges Familienmitglied einen Teller Cannoli, seiner Leibspeise.
– Iss, iss, mein Sohn. Sie sind mit Frischkäse gemacht, mit
cavagna
… so was findet man nicht auf dem Festland!
Tja. Das Festland. Genau von dort kam Angelino Lo
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