Schnapsdrosseln - Kriminalroman
Schmerz war nur ein Teil des Ganzen. Sie konnte ihn nehmen, ihn bündeln und irgendwo verstauen.
Sie hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach war. Aber die Illusion war verlockend gewesen. Sie war kaum eingezogen, als Norbert vor der Tür gestanden hatte. Ein kurzer Moment der Fremdheit und Verlegenheit, dann hatte es sich vertraut und gut angefühlt. Als wäre nichts gewesen in all den Jahren. Von da an kam er fast jeden Tag. Er half ihr. Sie kratzten Tapeten von den Wänden, schliffen Böden ab. Sie tranken am Abend Bier und redeten.
Bernd hatte länger gezögert. Aber nicht wirklich lange. Und dann war auch er da gewesen. Genau wie Norbert, hilfreich und selbstverständlich. Beide waren auf ihre eigene Art noch immer die besten Freunde, die sie sich wünschen konnte.
Was zwischen den beiden im Argen lag, hatte sie erschreckt. Aber das war nicht ihr Problem. Damit wollte sie nichts zu tun haben. Dinge änderten sich. Nicht immer zum Guten.
Jetzt war Bernd tot. Aber Schock und Trauer waren kein Dauerzustand. Sie wusste aus Erfahrung, dass solche Gefühle nachließen. Und darum konnte man traurig sein und trotzdem glücklich. Bernds Tod machte manches einfacher. Sie mochte den Gedanken nicht, aber das änderte nichts an der Wahrheit.
Der war es egal, ob man sie mochte oder nicht.
Leises Gackern drang an ihr Ohr. Sie sah hinüber zu dem überdachten Gehege, in dem die Hühner herumliefen. Zwei Glucken und acht Küken, die mittlerweile kaum noch an die winzigen, flauschigen Bällchen erinnerten, die sie noch vor wenigen Tagen gewesen waren. Die Glucken bewachten sie trotzdem noch streng. Genau wie Stefanie. Irgendwann würde sie sie vielleicht im Garten laufen lassen können. Aber noch fürchtete sie Raubvögel und herumstromernde Katzen. Sie hatte sich vorgenommen, das Gehege auszubauen für den Sommer.
Stefanie liebte die Hühner. Die Kleinen waren mittlerweile handzahm, sie sprangen auf ihren Schoß, fraßen ihr aus der Hand. Sie hatte immer Hühner gewollt. Und Schafe. Wenn sie irgendwo eine Weide zur Pacht fand, würde sie auch Schafe halten.
Das hier war richtig. Das war es wert!
Aus dem Augenwinkel sah sie Karl. Sein hellbraunes Fell schimmerte in der Sonne. Er schlich durchs hohe, ungemähte Gras, näherte sich dem Hühnergehege. Ihre uralte Dogge, ein gutmütiger Gigant. Die Gelenke machten ihm zu schaffen.
Stefanie stieß einen kurzen, scharfen Pfiff aus. »Ab!«, rief sie dem Hund zu, der den Kopf gewandt hatte und sie ansah. »Ab mit dir!« Sein Blick – als könne er kein Wässerchen trüben. Er war sehr gut erzogen. Ein braver Hund, wie man so sagte. Aber doch ein Hund. Ein Tier, gesteuert von Instinkten. Die drängten ihn zu den Hühnern, rieten ihm, sie zu jagen, zu schnappen.
Er kläffte kurz, dann trollte er sich. Nicht weil er etwas einsah oder verstand. Er folgte einfach ihrer Anweisung. Weil sie die Chefin des Rudels war. Sie garantierte ihm Schutz und Nahrung. Sie hatte die Kontrolle. Und so musste es sein. Anders funktionierte es nicht.
Mit Tieren war es leichter als mit Menschen.
Die Polizei würde kommen. Fragen stellen. Aber Stefanie hatte Antworten. Sie war vorbereitet. Sie würde nicht lügen.
Sie dachte an den Brief. An dieses schreckliche Stück Papier, das so viel Zerstörungskraft hatte.
Es spielte keine Rolle. Es gab Dinge, die nur sie etwas angingen. Die Polizei würde Fragen stellen, sie hatte Antworten. Sie würde nicht lügen. Sie würde aber auch nicht alles erzählen.
Sie würde sich das hier nicht kaputt machen lassen. Von niemandem.
»Wo isst du das eigentlich alles hin?« Britta musterte missbilligend Agathe Hutschendorf, die zufrieden den Teller von sich schob, auf dem sich eben noch eine riesige Rindsroulade nebst einem ordentlichen Berg Kartoffeln und Blumenkohl befunden hatte. Figürlich erinnerte die alte Dame an ein kleines Vögelchen. Ein Vögelchen mit dem Appetit eines heranwachsenden Löwen.
»Guter Stoffwechsel«, erklärte Agathe und rülpste leise. »Außerdem denke ich viel. Denken verbraucht Kalorien! Du solltest vielleicht auch ein bisschen mehr denken. Zum Beispiel daran, dass Schokolade möglicherweise gar nicht wirklich glücklich macht …«
»Ich esse, was mir passt«, fauchte Britta.
»Das ist nicht zu übersehen.« Agathe ruckelte ihr knochiges Hinterteil im Polster zurecht. »Gib mir einen Schnaps!«
Agathe war nicht nur eine ausgesprochen verfressene alte Dame, sondern auch Gewohnheitstrinkerin. Aus Überzeugung. Sie war
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