Schnapsdrosseln - Kriminalroman
wie früher. Aber den Sinn dafür, dass etwas nicht stimmte, hatte er noch. Er spürte, dass sie Unterstützung brauchte. Tat, als wären die Hühner gar nicht da, und drückte sich an ihr Bein. Er winselte leise. Ihre Hand fand seinen Nacken, kraulte.
»Ist gut, mein Alter«, murmelte sie leise. Was sonst hätte sie sagen sollen zu einem Hund?
Die Glucken waren respektvoll zurückgewichen, wirkten aber nicht sonderlich beunruhigt.
Stefanie starrte das Blatt an, die Buchstaben. Sie las, wieder und wieder, versuchte, zu verstehen, was das zu bedeuten hatte.
»Verschwinde«, lasen ihre Augen. »Oder es geht dir genauso.«
Erneut winselte Karl. »Alles gut«, sagte sie, leere Worte, aber die einzigen, die ihr einfielen. Sie atmete konzentriert. Ein und aus. Merkte, wie das Entsetzen wich und einem anderen Gefühl Platz machte. Zorn. Leise brodelnd, derselbe Zorn, den sie beim letzten Treffen mit Bernd gespürt hatte. Ohnmächtiger Zorn, der sich in ihrem Kopf zu flammend roten Gedanken ballte. Sie würde sich das hier nicht kaputt machen lassen! Von niemandem!
Sie knüllte das Blatt zusammen, ganz langsam, formte es zu einer kleinen, kompakten Kugel, die sie in die Tasche ihrer weiten Arbeitshose stopfte. Der automatische Bewegungsablauf wurde ihr erst bewusst, als sie nach dem Eimer mit dem Futter griff. Sie stand ganz still, eine Sekunde oder eine Stunde, konzentrierte sich. Auf die Glucken, die aufgeregt scharrten. Auf Karl neben ihr. Sie wies das Entsetzen in die Schranken, griff in den Eimer. Mit routinierten und ruhigen Bewegungen streute sie die Körner aus.
Dann begann sie, die kleinen toten Körper einzusammeln.
ZWÖLF
Wie an jedem Tag war Dieter um sechs aufgestanden. Wie jeden Tag hatte er ein halbes Glas Milch getrunken, eine Banane gegessen und dann eine halbe Stunde auf seiner Rudermaschine gearbeitet. Er war fit, und er war stolz auf seinen Körper, auch wenn es mit zunehmendem Alter mehr Disziplin forderte, einen unschönen Bauchansatz zu vermeiden. Er hatte geduscht, hatte sich Kaffee gekocht und eine Schale Müsli gegessen. Dann hatte er sich hinter die Gardine gestellt, hatte aus dem Fenster gespäht und gewartet.
Es war unwürdig. Und doch nicht so schlimm wie der Gedanke, Elsa an diesem Morgen zu ertragen. Er wusste, dass er etwas sagen oder tun würde, über das Maxi sich aufregen würde. Und er wollte Maxi nicht aufregen. Das war nicht klug.
Darum ließ er sich lieber auf die unwürdige Warterei ein.
Immerhin hatte es sich gelohnt. Sie hatte tatsächlich Haus und Grundstück verlassen, den ekligen Köter im Schlepptau. Nein, es war eher umgekehrt. Dieter wusste nicht, wen er mehr hasste – Elsa oder den hysterischen Pissköter.
Es spielte keine Rolle, sie konnten beide zum Teufel gehen, und jetzt war die Bahn frei für ein Gespräch, ein ruhiges und vernünftiges Gespräch zwischen Vater und Tochter.
Maxi öffnete nach dem ersten Klingeln. Sie wirkte erschöpft, bat ihn herein wie einen Gast, höflich, nicht herzlich. Er folgte ihr ins Wohnzimmer. Licht flutete durch die großen Fenster. Der Becher Kaffee nahm sich ein wenig verloren aus auf der großen, ansonsten leeren Tischplatte.
»Möchtest du auch einen?«, fragte sie.
Er winkte ab.
»Du siehst besser aus«, sagte er, halb weil er wusste, dass sie das hören wollte, halb weil er es selber gern geglaubt hätte. »Konntest du einigermaßen schlafen?«
»Es geht schon.« Sie gab sich keinerlei Mühe, das Phrasenhafte der Antwort zu verbergen. Sie griff nach dem Becher, trank einen Schluck Kaffee. »Was kann ich für dich tun?«
Er zuckte zusammen. »Ich … ich wollte nach dir sehen, Maxi«, log er. »Ich wollte sehen, wie es dir geht, fragen, ob ich etwas tun kann.«
Sie seufzte. »Papa, bitte!« Sie sah auf die Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich muss in die Kanzlei.« Sie wehrte den Protest, den sie offenbar erwartete, mit einer Handbewegung ab. »Es hilft mir«, sagte sie. »Ich muss arbeiten. Ich kann nicht hier hocken und die Wände anstarren. Ich muss etwas tun. Und ich habe Mandanten. Menschen, die auf mich zählen.«
»Natürlich.« Er atmete tief durch. Beschloss dann, direkt zur Sache zu kommen. »Es tut mir leid, dass ich gestern so … dass ich mich so benommen habe. Mir geht das alles auch nahe, ich … Es tut mir leid.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie.
»Hast du dir die Sache noch einmal überlegt?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Seufzte dann leise. »Es gibt nichts zu überlegen. Ich kann
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