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Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)

Titel: Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Witzel
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erschreckt. Dabei ging es weder um den Atomausstieg von Sachsen-Anhalt noch um Neonazis in Magdeburg. Der Spitzenkandidat der CDU hatte lediglich auf die Frage eines westdeutschen Journalisten geantwortet, wie er sich die Hölle vorstelle – und zwar so: »Wenn da nur lauter Wessis drin wären.«
    Gut, dachte ich erst, da spielt eine verzweifelte Blockflöte aus Angst vor PDS, SED, oder wie die gerade heißen, die Ost-Karte. Das reicht schon für ein bisschen Empörung im Westen und ein paar Stimmen mehr in Halle. Doch dann legte der Mann – schon gewählt, also gewissermaßen ohne Not – noch einmal nach und erklärte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Vorzüge der »ostdeutschen Frau«. Sie sei »unkompliziert« und »nüchterner« als West-Frauen und setze durch ihre »Diktaturerfahrung andere Prioritäten«, etwa beim Einkauf von Fleisch. Außerdem hämmerte er den Reportern noch ein paar Worte ins Merkheft, die ebenso gut »Schnauze, Wessi« hätten lauten können, zum Beispiel: »Die Geschichte müssen wir selbst schreiben, das kann kein Historiker aus Bielefeld.« Oder den – für einen nach eben diesen Ritualen gerade frisch gekürten Regierungschef zumindest – ziemlich lässigen Satz: »Die gesamte Welt der politischen Rituale im Westen ist uns nach wie vor fremd.« Ich war beeindruckt.
    »Sehr geehrter Herr Dr. Haseloff«, schrieb ich gleich am nächsten Tag in einer E-Mail an ihn: »Hiermit möchte ich mich als Regierungssprecher bewerben.« In aller Kürze schilderte ich meine Erfahrung aus »20 Jahren Agitation und Propaganda für westdeutsche Massenmedien«. Mit deren »Niederträchtigkeiten« sei ich bestens vertraut, zudem »demokratischer Quereinsteiger« wie er. Vor allem aber – Stichwort »Hölle« – verstünde und spräche ich seine Sprache. Zum Beleg hängte ich ein paar verlinkte Arbeitsproben zu dieser Kolumne an und bat ihn dringend, seine »westdeutsch sprechende Sprecherin und am besten auch gleich alle Minister und Staatssekretäre mit Migrationshintergrund« nach Hause zu schicken. »Lassen Sie uns gemeinsam«, so endete ich, »aus gedemütigten Ostdeutschen wieder selbstbewusste Menschen und aus dem Land der Frühaufsteher (ich wusste, er mag diesen Marketing-Slogan für Sachsen-Anhalt nicht) ein echtes Morgenland machen!«
    Die westdeutschen Beamten in den Magdeburger Ministerien hatten vermutlich schon aufgeatmet, als sich sein Vorgänger Böhmer (»Der Ossi hatte immer was zu lachen, und wenn es nur über Wessis war«) in den Ruhestand verabschiedete. Wer konnte auch ahnen, dass der neue in dieser Himmelsrichtung noch mehr poltern würde als »der Alte«. Ich sah sie schon zittern vor unserem eisernen Besen und viele freie Posten für meine arbeitslosen Freunde. Vor Glasnost und Perestroika und ethnischen Säuberungen in Ministerien. Möglicherweise war es aber auch ein taktischer Fehler, das gleich beim ersten Kontakt anzuregen, und eben diese Leute haben meine Bewerbung unterschlagen. Vielleicht fand Haseloff auch meine Grußformel »¡No pasarán!« zu pathetisch. Jedenfalls habe ich bis heute – nach sechs Monaten! – nicht mal eine Eingangsbestätigung erhalten. Selbst Schuld! Ohne meine Hilfe ist es um Reiner Haseloff inzwischen leider wieder ruhiger geworden. Seine provokanten Sätze, so ruderte er gar zurück, seien aus dem Zusammenhang gerissen, die »Wessi-Hölle« nur Ironie gewesen. Und wenn ich das schon höre, bin ich eigentlich froh, dass ich im Überschwang der Gefühle nicht gleich beim Klassenfeind gekündigt habe. Hier kann ich wenigstens schreiben, was ich will. Das hat zwar in erster Linie auch nichts mit Presse-, sondern allenfalls mit Narrenfreiheit zu tun. Aber so lange die Klicks stimmen, halten sich meine westdeutschen Chefs meistens an die Empfehlung in der Überschrift oder stellen einfach ein über die Maßen albernes Ampelmännchen-Quiz daneben, um die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen in den besetzen Gebieten zu relativieren.
    Echter Widerstand sieht anders aus. Da mache ich mir nichts vor und bei ostdeutschem Bier oft genug Gedanken mit Freunden. Neulich hatten wir die Idee, eine Art Berechtigungsschein einzuführen, den Westdeutsche bei sich tragen müssen, wenn sie hier Grundstücke kaufen oder große Reden schwingen. Aber weil den ihresgleichen in den Rathäusern ja praktisch selbst ausstellen müssten, haben wir diese Überlegung ebenso schnell wieder verworfen wie die geschmacklose Schnapsidee eines

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