Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
hatten.
Ihre Kinder plapperten noch das Gelöbnis der Pioniere nach, als die Lehrer plötzlich nicht mehr vom Klassenfeind redeten, sondern in dessen Schuldienst übernommen werden wollten. In Ausbildung und Studium war dann statt Zurückhaltung und Gleichschritt auf einmal nur noch das gefragt, was Westdeutsche für Selbstbewusstsein halten. Und bis mir Ronny davon erzählte, hatte ich auch keine Ahnung, was es bedeutet, ein Leben lang mit so einem Namen gezeichnet zu sein oder etwa als Mandy in München zu studieren.
Schon als Kinder in der Diaspora litten viele unter dem Stigma ihrer Herkunft. Andere berichten bis heute von Nachteilen, weil sie gewissermaßen von Haus aus nicht so auf die Kacke hauen wie Kollegen oder Kommilitonen, die zwar meistens auch nicht mehr drauf haben, aber immer lauter so tun, als ob. Trotz aller Mühe und Verrenkungen, ob sie wollten oder nicht, »blieb stets das diffuse Gefühl, drei Mal besser sein zu müssen als« – ja wer eigentlich? Selbst diese Abgrenzung fällt »irgendwie« schwer.
Westdeutsche dagegen haben – vielleicht weil sie nie Pioniere waren – das natürliche Bedürfnis, einer bestimmten Alterskohorte anzugehören und sich so kulturhistorisch aufzuwerten. Im Zweifel geben sie der eigenen Schublade Namen wie »Generation Golf« oder »Die 68er«, damit Medien und Werbeindustrie darin jeweils die passende Musik zum aktuellen Gebissreiniger finden. Nach der »Generation X« und der zweiten oder dritten »Generation Erbschaft« treibt derzeit angeblich die »Generation Y« den Zeitgeist an – laut Spiegel »oft Einzelkinder«, die als »ganzer Stolz ihrer Eltern« nie gelernt haben, sich auch mal hinten anzustellen. Für jeden Pups wurden sie gelobt, selbst wer erst zum Schulanfang auf den Kinderwagen verzichtete, bekam dafür noch eine Urkunde. »Trophy Kids« werden sie in den USA genannt, und überfüttert mit Selbstwertgefühl scheinen sie genau das Gegenteil von jungen Leuten zu sein, die noch einen Kachelofen heizen können.
Aber muss man deshalb gleich eine eigene »Generation O« proklamieren? Härtet so ein Systemwechsel wirklich ab? Zu zögerlich. Zu skeptisch. Zu weiche Ellbogen, wenn es drauf ankommt, so sehen sie sich selbst. Wieso, das fragen sie sich immerhin auch, bestimmt »eigentlich« immer der Westen das Maß dieser Dinge? Und: Können solche »Transformations-Erfahrungen«, wie »uns« ein (westdeutscher) Persönlichkeits-Coach am zweiten Tag einreden will, nicht auch gefragte »Soft-Skills« sein? »Irgendwie?«
Nach dem Mittagessen – Broiler, aber das tut nichts zur Sache – rauche ich mit René aus Gera noch eine Zigarette. Die Tische sind knapp. Eigentlich könnten wir Platz für andere machen, die ihre Teller auf Knien balancieren. Als ich das beiläufig erwähne, behauptet René, er wollte das auch gerade vorschlagen. Wir freuen und beglückwünschen uns, dass wir noch so solidarisch mitfühlen, obwohl sie einem immer einreden, man müsse lernen, auch mal an sich zu denken. Dabei würden, strahlt René, doch genau diese kleinen Gesten den Unterschied machen, echte Soft Skills … Inzwischen haben auch die anderen mühsam aufgegessen. Aber immerhin haben wir an sie gedacht.
Langsam fange ich an zu verstehen, warum diese jungen Leute eben doch noch anders sind, da fragt mich Mandy, die einen Workshop leitet, wie alt ich »eigentlich« sei. Vor dem Spiegel gehe ich auch noch als 34 durch, aber in der Vorstellungsrunde habe ich mich – Ost-Trottel-ehrlich – als Journalist geoutet, was sie »irgendwie« stört. Ich sei aber auch Betroffener, bettele ich und verspreche, nichts zu schreiben. Doch Mandy bleibt hart: 42 ist für sie »eindeutig die 2. Generation.« Und nachdem ich mich nicht einmal im Westen je so alt und ausgegrenzt gefühlt habe, räche ich mich nun eben so:
Ihr seid überhaupt nichts Besseres! Generation Mandy – lächerlich! Wie ich später noch mitbekomme, gehören sogar Westdeutsche zum »Team«, leiten Workshops und faseln von »ungenutzten Ressourcen«. Wie überall wollen sie mitreden. Und ich darf nicht! Ihr Pressesprecher ist »eigentlich Hamburger« und bittet professionell um Verständnis: »Im Team« werde das nicht so eng gesehen. Na dann – einer muss es ihnen ja mal sagen: »Schnauze, Wessi!«
*
Namen und Verbannungsorte zum Teil geändert.
»Es ist der Fluch der Zeit,
dass Irre Blinde führen.«
William Shakespeare, King Lear, 1605
Das Pfeiffer’sche Drüben-Fieber
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