Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
sich dieses Thema in fünf, zehn oder spätestens 20 Jahren erledigt hätte.
In Wahrheit kann von der so genannten inneren Einheit bis heute keine Rede sein. Dafür sind wir viel zu verschieden. Zum Glück. Immer noch. Vielleicht haben uns die Jahre nach dem kalten Krieg sogar mehr entfremdet als die Zeit davor. Dieser Graben lässt sich nicht leichtfertig zuschütten, wie das seit 1990 vergeblich versucht und in diesen Tagen wieder in allen Festreden beschworen wird, gern auch mit dem berühmten Satz vom Zusammenwachsen (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«), den Willy Brandt tatsächlich nie so gesagt hat, schon gar nicht am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Er wurde ihm nachträglich untergejubelt, verstümmelt und verkürzt. Erst ein Jahr später, als man die Wiedervereinigung noch für einen Grund zum Feiern hielt, sagte Brandt etwas, das dem falschen Zitat zwar nahe kam, aber ein wenig nach dem richtigen Umgang mit geistig Behinderten klang. Im Zusammenhang mit der »wirtschaftlichen Aufforstung« des Ostens warnte Brandt eindringlich vor den »geistigkulturellen Hemmschwellen und seelischen Barrieren« zwischen den Deutschen und fügte an: »Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.”
Es kam anders. Takt gehörte ohnehin nie zu westdeutschen Stärken. Und so blieb jeder, was er war. Oder um es ungefähr mit Walter Ulbricht zu sagen, dem wir – neben Hitler und anderen gemeinsamen Vorfahren – das alles zu verdanken haben: Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen. Bitte nicht auch noch die in den Köpfen! Schon im Interesse der kulturellen und menschlichen Artenvielfalt wäre es schade darum. Wer soll uns sonst in Zukunft erklären, wie das damals mit dem Mauerfall und dem Westfernsehen wirklich war? Wer soll uns die Demokratie erklären, das Arbeiten beibringen oder die »seelischen Barrieren« heilen? Und wer soll diesen Klugscheißern sagen, dass sie vielleicht auch mal lernen müssen, was ihnen von Natur aus so schwerfällt?
Na gut, ich mach’s und sag es mal so: Schnauze, Wessi!
»Mia san mia«
Mob in München, 2011
»Wir sind das Volk«
Mob in Leipzig, 1989
... und ihr seid ein anderes
Pünktlich zum Jahresende hängen wieder angebliche »Hass-Plakate« im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Leider ist nur der Adressat klar, nicht der Absender. Eine Bewerbung.
Sie kleben regelmäßig an Stromkästen und Mülltonnen, im Bötzowviertel und rund um die Winsstraße – überall, wo Touristen den Ost-Berliner Kiez einmal besonders kiezig fanden, bis sie unbedingt selbst dazugehören wollten. »Wir sind ein Volk!«, steht dieses Jahr auf den Plakaten. »Und ihr seid ein anderes.« Unterschrieben sind sie mit: »Ostberlin, 9. November 2009.«
Abgesehen davon, dass dies natürlich für das ganze Land gilt, ist es eine ziemlich harmlose Wortspielerei, eine Art Binsenweisheit nach 20 Jahren Clash der Kulturen. Nicht so platt wie »Schwaben, verpisst euch!«, was auf neuen Berliner Fassaden auch oft verlangt wird, oder etwa »Schnauze, Wessi!«. Trotzdem weiß jeder sofort, wer das eine Volk ist und wer das andere – und was sonst noch gemeint ist. Die Botschaft kommt an, offenbar sogar bei denen, die das Leben der Anderen nur aus dem Kino kennen. Sonst würden sie sich nicht alle Jahre wieder darüber aufregen.
Noch schöner ist, dass es jedes Jahr mehr werden – die Plakate selbstverständlich. Sie sind größer und aufwendiger gemacht als die kopierten DIN-A-4-Zettel der vergangenen Jahre, auf denen anonyme Widerstandskämpfer ihren neuen Nachbarn eine gute Heimreise wünschten oder sich für die erholsamen Feiertage bedankten, wenn die Saab-Karawane im Stau nach Süddeutschland steckte. Am schönsten aber sind die öffentlichen Reaktionen darauf, jedenfalls die veröffentlichten:
Ungewohnt vorsichtig rätselt die Bild-Zeitung über den »Plakat-Krieg« – es sei noch »unklar, was es damit auf sich hat«. Für »Hass-Plakate« entscheidet sich dagegen die alte West-Berliner B.Z. und analysiert »einen neuen Höhepunkt des innerdeutschen Rassismus«. Die Berliner Morgenpost meint, »Plakate spalten Anwohner« und verwechselt damit die Ursachen – als könnte Papier eine Schere schneiden. In der Berliner Zeitung – sonst eher rücksichtsvoll im Umgang mit ewig gestrigen Gefühlen und
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