Schneckenmühle
vorkommen, wenn er einfach etwas Erfundenes behauptet? Hat er dann nicht das Bedürfnis, sein Gewissen zu erleichtern und sich irgendwem zu offenbaren? Und wenn er selbst an seine Lüge glaubt? Ist es dann noch eine Lüge? Seine Mutter habe sich nach seiner Geburt zunähen lassen, behauptet Eike.
«An der Transit-Autobahn nach Westberlin, da liegt alles voll mit leeren Büchsen. Die werfen die einfach aus ’m Auto. Da is manchmal sogar noch was drinne!»
Da muß ich unbedingt mal hin, das nehme ich mir vor, ich sammle doch Büchsen, das ist eine Leidenschaft geworden, nachdem es mit einer Sinalco-Büchse vom Flohmarkt angefangen hatte. Manchmal fülle ich Cola in eine Büchse und trinke sie genüßlich mit dem Strohhalm aus. Frottee-Handtücher, dem Tiger rückwärts entgegenspringen und Büchsen von der Transit-Autobahn. Es wird immer mehr, was ich mir merken muß, ich muß endlich anfangen, mir alles in meinen Notizblock zu schreiben, sonst geht es mir wie mit den Bud-Spencer-Sprüchen, die man jedesmal gleich wieder vergißt.
Dennis läuft mit irrem Blick durch den Bungalow, die Hände vorgestreckt. Zwei Pfeffis als Hasenzähne gucken unter seiner Oberlippe hervor. «Zombies!»
«Zombies?»
«Zombies!»
«Watt is denn ’n Zombie?»
«Na, so ’ne Leiche, die noch lebt.»
«Und was machen die?»
«Die wollen immer inne Kaufhalle, weil da die ganzen Menschen sind.»
«Jibt’s denn so wat?»
«Ditt war in so ’m Fülm.»
«Und in echt?»
«In echt weeß ick nich.»
Eike hat entdeckt, daß sich hinter einem Spind ein Sicherungskasten befindet. Mit zwei zusammengepreßten Sicherheitsschlüsseln kann man das Vierkantschloß öffnen. Er dreht an einer Sicherung, draußen gehen ein paar von den rechteckigen schwarzen Laternen aus, die Kindersärge genannt werden. Offenbar ist das hier der Sicherungskasten fürs ganze Ferienlager. Eike dreht abwechselnd Sicherungen raus und rein und spielt mit den Laternen Lichtorgel.
«Kiekt euch den Kunden an!»
«Is der kaputt …»
Marko hat ein besonderes Buch dabei, alle drängen sich an sein Bett. Im Licht der Taschenlampen blättert er zur richtigen Stelle. Es ist ein Roman, «Krieg der Sterne», das klingt schrecklich für mich. Wenn sogar im Weltall Krieg ist, das ist ja noch schlimmer als ein Weltkrieg. In der Mitte des Buchs sind Farbfotos von den Figuren abgedruckt.Die Frau trägt eine weiße Bluse, und wenn man ganz genau hinguckt, behauptet Marko, sieht man eine Brustwarze durchschimmern.
«Los, Kurvendiskussion!»
«Ob man Birgit schon befruchten kann?»
«Frigide sei mit dir.»
«Wenn du denkst, du hast ihn drinne, dann hängt er in der Sofarinne.»
«Mein Bruder hat ’n Poster von Zementa Fox.»
Marko krümmt sich, als hätte er Bauchschmerzen: «Noch vier Jahre. Ditt is jemein.»
«Vier Jahre?»
«Ick halt ditt nich aus.»
«Was ist denn in vier Jahren?»
«Mensch, da sind wa 18!»
Wir hatten mal eine Jugendstunde «Sexualität» in der Schule, weil jemand an die Tafel geschrieben hatte: «Scheiße an der Sackbehaarung zeugt von einer Männerpaarung.» Wir durften alle eine Frage notieren. Der Vater einer Schülerin und der Mann der Lehrerin, die beide Ärzte waren, gaben das Jugendlexikon «Junge Ehe» herum. An die Tafel malten sie einen durchsichtigen Frauenbauch, durch den ein Punkt wanderte, wie ein U-Boot, das eine Detonation bewirkte, deren Druckwelle mit verschieden großen Ringen verbildlicht war, was den Bauch fast zum Platzen brachte. Auffällig war, wie ernst die Erwachsenen wurden, sobald das Thema aufkam, es wirkte, als verschwiegen sie uns irgendein schreckliches Geheimnis. Sexualerziehung war im Grunde noch langweiliger als der übrige Unterricht. Wie bei «Denkst du schon an Liebe?» wurden die Fragen nicht beantwortet. Die meisten Jungs hatten die Möglichkeit, Fragen abzugeben, auch boykottiert,nur Roberto nicht. Wir setzten ihm zu, daß er uns seine Frage verriet. «Was der Mann fühlt, wenn er seinen Penis in die Scheide steckt …», sagte er schließlich widerstrebend. Irgendwie kam es mir vor, als hätte er uns alle verraten.
In der nächsten Zeit stattete einer nach dem anderen dem Jugendlexikon in der Kinderbibliothek im Dienstleistungswürfel Besuche ab. Die Bibliothekarinnen sind zwar Respektspersonen, ihre Macht reicht aber nicht über die Bibliotheksräume hinaus. Mit ihren lackierten Fingernägeln lassen sie die Karteikarten durchflattern und rechnen die Mahngebühr aus. Ich finde es immer seltsam, daß sie
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