Schneckenmühle
natürlich nicht, Staffelstabübergabe ist unsere Stärke. Auch hier gibt es einen Trick, den der Sportlehrer entwickelt hat, die Hand wie einen Trichter halten, dann muß der Stab nur noch von unten reingeschoben werden, und es kann nichts schiefgehen. Wenn die Hand falsch gehalten wird, stürzt er herbei und schraubt sie in die richtige Position. Es gibt zahlreiche Fortbewegungsarten, die geübt werden müssen: Krebsgang, Entengang, Schlenderlauf, Kniehebelauf, Hüpfer-Lauf, Schlußsprünge, Japan-Lauf. Zwischendurch immer wieder Beine ausschütteln. «Harry-Sprünge», da machte man sich «zum Harry».
Muskeln, man braucht Muskeln. Am Abend im Waschraum versuchen wir, mit den Brustmuskeln zu wackeln, wie es Arnold Schwarzenegger in «Auf Los geht’s los» demonstriert hat, der Moderator hatte den nur scheinbar Widerstrebenden überredet, dazu sein Hemd auszuziehen. Aber, wie wir uns auch bemühen, das Kunststück nachzuahmen und vom Gehirn aus eine Verbindung zu diesem Stück Fleisch herzustellen, kein Nerv fühlt sich dafür zuständig.
Meine Füße wasche ich nicht, ich ziehe die Turnschuhe sowieso nur zum Schlafen aus. Die Haut an der Fußinnenseite zieren zwei kleine Staubkreise, von den Metallringen der Luftlöcher.
7 Jeder hat sich mit seiner Doppelstockbetthälfte angefreundet, wer oben liegt, sieht darin einen Vorteil, wer unten liegt aber auch. Man kann im richtigen Rhythmus mit den Füßen gegen die Sprungfedern treten, daß der oben in die Höhe fliegt wie auf einem Trampolin. Henriette und Heike, die Krankenschwester, die der Sani-Tante hilft, sagen uns gute Nacht. Wir lassen unsere Splitter begutachten und die Pflaster erneuern. Ich muß seit ein paar Tagen immer Luft schlucken, im Bauch scheint ein Vakuum zu sein. «Ich muß immer Luft schlucken.» Ich kann es nicht besser erklären. Heike kommt an mein Bett, nimmt meine Hand und mißt meinen Puls. Ich soll den Mund aufmachen, und sie sieht in mich hinein. Ich würde mir wünschen, daß sie etwas Ungewöhnliches entdeckt, vielleicht würde sie sich dann Sorgen um mich machen und mich mit eigens in einem Labor voller dampfender Glaskolben und Bunsenbrenner zusammengemischten Medikamentenbehandeln. Vielleicht würde ich sogar phantasieren. Aber ihre Untersuchung bewirkt ganz im Gegenteil, daß ich mich so seltsam ruhig fühle, wenn sie mich ansieht. «Ich bin auch krank!» ruft Marko. Alle wollen den Puls gemessen bekommen oder gleich «Mund-zu-Mund-Beatmung». Henriette geht herum und sagt uns gute Nacht. Sie übergibt Holger einen Zettel. Zu mir beugt sie sich herab und sagt: «Du bekommst bestimmt auch bald einen Liebesbrief.»
Draußen ist es still, auf der Straße fährt selten ein Auto. Zum Glück haben die Bungalows keine Fenster zum Wald, sondern nur zur Wiese. Marko weiß eine lange Ballade auswendig, die mit den Worten endet: «Und die Moral von der Geschicht’? Halbe Eier rollen nicht!» Die muß ich mir später unbedingt aufschreiben, das wird gut, wenn ich die zu Hause bei meinen Freunden zum besten gebe. Langsam sammelt sich ein Schatz von Sprüchen und Witzen an, die ich hier gelernt habe, ich kann mir nicht mehr alles merken. Die «Skorpions» sind deutsch? Thomas Gottschalk war früher Lehrer? Nina Hagen ist eigentlich «von hier»? Ob die drüben das nicht wissen? Sogar Erich Honecker ist «aus ’m Westen»? Das geht doch gar nicht? Der ist gar kein Sachse? Und den Zauberwürfel hat einer aus Ungarn erfunden? Das zeigt doch, daß wir eigentlich gar nicht so dumm sind?
Dennis wiederholt immer wieder, daß man nach Ungarn nur Frottee-Handtücher mitzunehmen brauche, damit könne man dort alles bezahlen. Den ganzen Koffer voller Frottee-Handtücher, die seien praktisch Gold wert, weil die Ungarn aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sind, so etwas herzustellen. Seine Familie machedas so, Frottee-Handtücher über Frottee-Handtücher. Ich merke mir das, ein Tip, der mir hier zugefallen ist und mir vielleicht eines Tages noch nützen wird. Ich weiß ja auch, wie man einen Tiger tötet, wenn er auf einen zuspringt, man muß dann mit dem Gesicht nach oben rückwärts unter ihm durchspringen und ihm den Bauch mit einem Messer aufschlitzen, das habe ich bei Sandokan gesehen.
«’n Kumpel von mir kann in Astronomie mit ’m Fernrohr nach Westberlin kieken, inne Koofhalle, da geht manchmal Udo Lindenberg hin», behauptet Dennis. Kann man das glauben? Aber wenn nicht, wäre es ja gelogen? Das müßte ihm doch selber komisch
Weitere Kostenlose Bücher