Schneckenmühle
mich gar nicht wiedererkennen, und es ist mir unangenehm, einer von ihnen auf der Straße zu begegnen, weil ich nicht weiß, ob ich sie grüßen soll. Es gibt einen Schaukasten für die Lesezeichen, die in zurückgegebenen Büchern gefunden worden sind, besonders ungeheuerlich: eine Wurstpelle. Ist man einmal in der Bibliothek, will man fast alles ausleihen, aber zuhause wirft man dann keinen Blick in die Bücher. «Das Zauberbuch» von Jochen Zmeck, mit Kartentricks. Aber es ist mir zu mühsam, das zu üben. Ein richtiger Trick muß doch ohne Üben funktionieren. Telepathie? Wenn man sich ganz stark konzentrierte, den Rücken vom Vordermann anstarrte und ihm befahl, sich einzupinkeln? Oder gleich Gedanken lesen? Das würde das Leben doch ungeheuer bereichern. Hoffentlich hat es nicht jemand anders schon gelernt. Man denkt ja oft Dinge, die man gar nicht denken will. Zur Sicherheit denke ich dann schnell noch einmal das Gegenteil hinterher.
Das Jugendlexikon «Junge Ehe» stand in einer Reihe mit anderen Jugendlexika, alle mit grauem Einband und fastnoch grauerem Papier. Da müsse man mal unter «Position» gucken, das raunte man sich zu. «
Umgangssprachlich die Stellung, die man bei sexuellen Handlungen einnimmt. Um einer Monotonie vorzubeugen, sollte man hin und wieder eine andere Haltung ausprobieren.
» Schwarz-Weiß-Fotos von einem nackten Pärchen, das auf einer Wiese voller Pusteblumen demonstrierte, wie man «es trieb». Auf der gegenüberliegenden Seite der Eintrag «Pornographie» mit einer Abbildung von einem Kino aus einer westdeutschen Innenstadt. Die Filmankündigung: «
Goethehaus – Alles, was Erotik bieten kann: ‹Sie liebten wie die Tiere›.
» Und als Bildunterschrift: «
Im Kapitalismus gehört die Anpreisung der Pornographie zum Alltag.
» Ausleihen wäre mir peinlich gewesen, und angucken ging nur scheinbar unbeteiligt, beim Umblättern. Immerhin lag auf der Seite keine Wurstpelle.
8 Eine Gestalt mit Taschenlampe nähert sich unserem Bungalow, es ist Wulf, das erkennen wir am schnarrenden Geräusch, das der Dynamo seiner Lampe macht, deren Griff man ständig zusammendrücken muß, damit Strom erzeugt wird. Ein wundervolles Gerät, um das wir ihn alle beneiden, unendlich viel Strom, das ist besser als Solarzellen, die nützen ja in der Nacht nichts, also gerade, wenn man das Licht braucht. Wir stellen uns schlafend, aber nicht so übertrieben, daß es unecht aussieht. Die Augen nur locker schließen, wenn der Lichtschein einem übers Gesicht streicht, und hoffen, daß er weiterwandert. Ich bemühe mich, ein «ehrliches» Gesicht zu machen, so, wie bei «Tim und Struppi» immer über Tim gesagt wird: «Du hast ein ehrliches Gesicht, Fremder.» Eike steht immer noch am Sicherungskasten und dreht an den Sicherungen.Wulf versucht, ihm seine Taschenlampe abzunehmen, aber Eike wehrt sich überraschend heftig. Weil Wulf sein Gesicht nicht verlieren darf, muß er minutenlang mit ihm ringen, um Eikes Hand aufzukriegen und ihm die Lampe zu entwinden, während Eike tobt und schreit: «Die hab ick von mein’ Vater!» Wulf kniet auf ihm, Eike beißt ihm in die Hand. Er wird für die Nacht ins Steinhaus mitgenommen.
«Ditt hätt ick von Wulf nich jedacht, daß der so ’n Schläger is», sagt Matthias.
«Schuld, eigene.»
Aus einem Fenster vom Steinhaus kommen Lichtzeichen. Jetzt müßte man das Morsealphabet kennen. «SOS» ginge ja noch: «Pipipip-piipiipiip-pipipip». Dafür haben unsere Lampen extra eine Morsetaste.
«Wie der dajestanden hat und janz lässig die Sicherungen rausschraubt!»
«Ditt is een Kunde.»
Draußen hört man Getrappel, die Jungen aus einer kleineren Gruppe rennen im Schlafanzug über die Wiese und stürzen in ihren Bungalow, der letzte knallt die Tür. Dann ist es wieder still.
«Da ist mal aus einem Ferienlager ein Kind verschwunden,
und in dieser Nacht war eine Hand gesehen worden
, mit langen Fingern und rotlackierten Nägeln.»
«’ne
Hand
? Watt denn für ’ne
Hand
?»
«Na, eine
Hand
, die hat da wer gesehen.»
«Und was ist mit dem Kind passiert?»
«Das ist später wieder aufgetaucht und hat sich an nichts erinnert.»
Es wird kurz ganz still, alle denken an diese unheimliche Hand. Denen, die am Fenster schlafen, wird mulmig,Schnecken kriechen die Wände des Holzbungalows hoch, die kann man aber eigentlich nicht hören, das ist nur Einbildung. Und der Hund, der nachts durchs Lager streunen soll?
«Wat wär ’n jewesen, wenn Marx und Engels sich nie
Weitere Kostenlose Bücher