Schneckenmühle
verschlossen, es besteht aus zwei mit Stacheldraht präparierten Bettgestellen, die so an den Metallpfostenfestgeschweißt wurden, daß sie schwenkbar sind. Man sieht die Sprungfedern, genau solche bräuchte man für seine Schuhe. Der Zaun steht unter Strom. Wir legen eine Jacke auf den Draht und versuchen, ohne einen Schlag zu bekommen, drüberzusteigen. Als die ersten es schon geschafft haben, nähert sich auf dem Sandweg knatternd ein Moped. Ein Mann mit einem runden, weißen Helm, der wie eine Eierschale aussieht, ruft uns etwas Unverständliches zu. Wulf versucht, ihn zu beruhigen.
«Meinen Sie, der Zaun steht da zum Spaß? Das ist LPG-Gelände.»
«Aber der Weg ist doch in der Karte eingezeichnet.»
«Und deshalb denken Sie, Sie können einfach über den Zaun steigen?»
«Was sollen wir denn machen, wenn wir den Weg weiterwandern wollen? Die Kinder brauchen doch ein bißchen Auslauf.»
«Dann schreiben sie doch eine Eingabe. Das ist LPG-Gelände. Haben sie noch nie etwas davon gehört, daß in der DDR
in
tensive Landwirtschaft betrieben wird?»
Er tritt in die Pedalen und fährt wie mit einem Fahrrad ein paar Meter, dann kuppelt er, es gibt einen Ruck, und der Motor springt an. Aus dem Auspuff kommt eine blaue Abgaswolke.
«’ne SR2», sagt Holger.
«Quatsch, die ist doch ohne Kraftschluß, ditt is ’ne SR1», widerspricht ihm Marko.
11 Wir ändern den Plan und wandern zu einem Nachbardorf, in dessen Mitte es, zwischen zwei Straßen, ein Löschwasserbecken gibt, das man zum Baden benutzen darf. Bloß nicht beim Kopfsprung auf den Boden knallen,dann müßte man für immer im Rollstuhl sitzen. Mein größter Wunsch ist, kraulen zu können. Ich bin aber immer froh, wenn ich am anderen Ende anschlage und nicht an der Seite, weil ich wegen meiner verzweifelten Atemzüge gar nichts sehen kann. Warum gibt es nur vier Schwimmstile? Könnte man nicht einen noch schnelleren erfinden? So, wie ja auch erst einer den Tiefstart erfinden mußte? Beim Laufen hatte ich schon die Idee gehabt, immer beide Arme gleichzeitig nach vorne zu schwingen, sonst hob sich die Wirkung ja auf.
Der Weg wird wieder schmaler und führt genau neben einem kleinen Bach den Berg hinab. Bevor wir Liebstadt erreichen, kommen die ersten Schrebergärten. So ein Ort hat keine klare Grenze. Manchmal gibt es in einem Garten ein Wasserrad, das von einem Rinnsal angetrieben wird. Die Gebäude werden größer, erst nur Baracken und Garagen, dann auch Bungalows und Häuser. Alte Badewannen dienen als Wasserspeicher, und in aufgeschnittenen Traktorreifen wächst Vergißmeinnicht. Die heißt wirklich so: «Vergiß – mein – nicht.» Ein Ehepaar richtet sich mühsam vom Unkrautjäten auf, um uns hinterherzugucken. Die Vorderseite eines Bungalows besteht aus dem Balkonelement eines Plattenbaus, mit Fenstern und Balkontür. Eine Frau reinigt mit einem Schrubber von außen die Fassade ihres Hauses. In einem Garten sitzen in einer Hollywood-Schaukel und in Campingstühlen Erwachsene mit sonnengebräunter, ledriger Haut um einen Campingtisch mit Wachsdecke. Sie haben einen Sonnenschirm mit Blumenmuster. Die Badehosen der Männer schneiden sich so tief ins Fleisch, daß man sie unter der Bauchfalte kaum noch sieht. Die Frauen tragen Badeanzüge oder Bikini. Ihre Brüste sehen aus wie Schläuche und sind unter demStoff ganz weiß. Alle halten Bierflaschen in der Hand und beißen in Bouletten.
Über Liebstadt thront Schloß Kuckuckstein. Wir besichtigen es jedes Jahr, aber wir kommen immer gerne wieder, aus den Schießscharten gucken, sich draußen auf die Kanonen setzen, die Ritterrüstungen, die aussehen wie für Kinder, weil die Menschen damals noch kleiner waren. «Wer muß mal austreten?» Napoleon hat hier 1813 etwas mit einem Diamant in eine Scheibe geritzt, aber warum war er überhaupt hier? Eine meiner kleinen Freundinnen hat Geburtstag und darf deshalb im Sekretär das Geheimfach suchen.
«Hat die ’ne Suppe!»
Im Freimaurerzimmer sagt der Führer, daß hier noch nicht alle Geheimnisse bekannt seien, das wisse er von Freimaurern, die manchmal zu Besuch kämen, ihm aber auch nicht mehr verraten wollten. Wir sollen mal gucken, wie der Mann auf dem Bild uns mit den Augen folgt. Das Leben auf einem Schloß, das war nicht wie im Märchen. Die Himmelbetten waren in Wirklichkeit gegen Wanzen, die von der Decke fielen, und der lange Eßtisch hatte eine Vertiefung, weil er nebenbei zum Sezieren von Leichen diente. Es gab keine Toiletten, beim Essen
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