Schneckenmühle
mit einer Unachtsamkeit zu reizen. Ja, ich bin getauft, lasse ich bei der Basteltante durchblicken, das ist wie ein Schicksal, eine Bürde, an der ich trage, aber auch eine Aufgabe, für die man auserwählt sein muß. Ich komme aus dem Mittelalter. Aber bei der Basteltante kommt es gut an. Eine alte Orgelpfeife dient als Spendenbüchse. Ganz bescheiden und beiläufig, aber auch nicht so, daß es keiner merkt, lasse ich eine Mark reinfallen. Ich habe das Gefühl, eigentlich mein ganzes Geld spenden zu müssen, sonst ist meine Großzügigkeit nichts wert, weil ich ja nur so viel gebe, wie ich gerade noch verschmerzen kann. Wahre Christen überschreiten diese Grenze aber und empfinden dabei noch Freude. Ich bin eben doch kein wirklich guter Mensch.
«Du glaubst an Gott?» fragt Wolfgang.
«Ja.»
«Das würde ich mir abgewöhnen. Sonst entwickelt sich dein Gehirn zurück.»
Am Ortsausgang bildet sich ein Pulk. Wir betrachten ein halbtotes Vogelküken, noch ohne Federn, das an einer Hauswand liegt. Es muß aus einem Nest gefallen sein, die Augen sind noch von Haut bedeckt. Das können wir dochnicht hier liegenlassen, dann wird es eine Katze holen oder ein Auto drüberfahren. Eben hat es noch im Nest gesessen, und jetzt wird es sterben, wenn wir es nicht retten. Anfassen darf man es bestimmt nicht, obwohl es kein Rehkitz ist.
«Nich anfassen, wenn ditt Tollwut hat.»
«Da müssen wir ’n Nest für bauen.»
«Oder in’ Tierpark bringen.»
Holger nimmt das Vögelchen, geht ein paar Schritte und schleudert es in die Büsche.
«Hast du ’ne Schacke? Ditt hat noch jelebt!»
Peggy laufen Tränen über die Wangen. Wir gehen weiter, bis zur Bushaltestelle, wo drei Jugendliche aus dem Ort mit den Füßen auf der Bank sitzen und uns feindselig anstarren. Ohne den Blick von uns abzuwenden, spucken sie abwechselnd aus, aber nicht mit Schwung, sondern so, daß sie die Spucke geräuschlos mit der Zunge aus dem Mund drücken. Die Haare rutschen ihnen immer in die Stirn, und sie pusten sie wieder zur Seite. Peggy ist uns mit etwas Abstand hinterhergekommen, weil sie sich an dem Tönnchen mit der Schmierseife abschleppt. Ihre Augen sind noch ganz feucht. Einer der Jungen sagt zu ihr: «Nimmst du die Pille?»
«An der reißt du dir noch ’n Splitter.»
«Die muß mal eingenordet werden.»
«Da mach ich’s lieber mit ’ner Kuh.»
Zum Glück kommt der Bus. Wir sind die einzigen Fahrgäste und verteilen uns von vorne bis ganz hinten. Manchmal setzt sich einer um, weil sein Sitznachbar gefurzt hat: «Marke Völkermord». Plötzlich bremst der Bus, und der Fahrer stürmt schimpfend an mir vorbei. Eine Schweinerei! Euch Berlinern wird doch nur Zucker in den Arschgeblasen! Er verlangt fünf Mark, aber wofür? Holger hatte seine Füße auf den Sitz gelegt, deshalb soll er aussteigen, er oder wir alle. Was bildet der sich ein? Das kann der doch nicht machen. Holger geht auf den Fahrer los: «Sie ham doch ’n Ding an der Glocke!» Der Fahrer schubst ihn aus dem Bus, Wulf steigt auch schnell aus, er darf keinen von uns allein lassen. Die Druckluft schießt in die Türgelenke, und die Türen schließen sich mit einem schnaufenden Knall. Wir können es kaum erwarten, allen im Lager von diesem Erlebnis zu berichten. Ich will eine Karte an meinen Cousin in Rendsburg schreiben, aber der Bericht zieht sich in die Länge, es ist so umständlich, das alles in Worte zu fassen. «Dann kam der Fahrer angestürmt, wie …» Ja, wie? Hätte ich den Satz besser anders angefangen. Wir spüren eine gerechte Wut gegen diesen Busfahrer, der «ein Ding an der Glocke» hat, den Ausdruck habe ich zum ersten Mal gehört, ich hätte eher «Sie Fatzke!» gesagt. Und daß Holger fast so stark war wie der Fahrer. Daß der ihn wegen so was rausgeschmissen hat. Das war alles so plötzlich passiert, als der Fahrer nach hinten stürmte, manchem war das Herz stehengeblieben, weil er gerade gefurzt hatte und dachte, der kam deswegen. Wir fühlen uns so herrlich im Recht, ein wohliges Gefühl von Rebellion und Überlegenheit. Die spinnen doch hier, die Sachsen! Wie die reden! Und wie die rumlaufen! Mit Schlaghosen! Die haben ja nicht mal H-Milch-Tüten und trinken Milch aus Glasflaschen! Auf einer Versammlung wird uns klargemacht, daß Holger sich beim Fahrer entschuldigen muß, wenn der Bus das nächste Mal vor dem Lager hält. Wir dürfen es uns mit den Busfahrern nicht verscherzen. Die Bevölkerung hier sei nicht gut auf unser Ferienlager zu sprechen. Manchmal
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