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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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99 Mauern sagt Dick zu Doof: ‹ich kann nicht mehr, ich geh lieber wieder zurück.›»
    Wulf weiht uns in den Tagesplan ein, er möchte mit uns den «Silberweg» suchen, einen Weg, den es hier irgendwoseit dem Mittelalter gibt. Wir wollen lieber im Lager bleiben und Tischtennis spielen, jedenfalls nicht wandern gehen. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Wir verstehen nicht, daß die Erwachsenen so wenig Phantasie haben, sich vorzustellen, was uns wirklich Spaß macht, das ist «belastend». Sie versuchen zwar manchmal, herauszubekommen, was wir denken und warum wir irgendetwas angestellt haben, aber man merkt richtig, wie sie mit ihren Spekulationen im Dunkeln tappen. In allem, was uns betrifft, sind wir ihnen von Natur aus überlegen.
    Beim Wandern muß jede Gruppe eine Sani-Tasche mitnehmen, genau so eine haben wir auch in der Schule für die Pioniermanöver und Wandertage. Die Tasche ist braun und hat einen weißen Kreis mit einem roten Kreuz. Solche Kreuze haben sie im Krieg auf die Dächer der Krankenhäuser gemalt, sagt meine Mutter, und die englischen Bomber haben das als Zielscheibe benutzt. Die Schnalle sieht genauso aus wie bei unseren Mappen, aber ohne Katzenauge. Früher war es eine Auszeichnung, die Sani-Tasche tragen zu dürfen, jetzt will man sich um jeden Preis drücken. Wulf muß wieder sagen: «Jeder kommt mal dran.» Wenn jemand sich das Knie aufgeschlagen hat, kommt die Tasche zum Einsatz. Eine Spezial-Schere mit einem Knick, Mullverband und eine blaue Plaste-Rolle mit Pflaster, die eigentlich aussieht wie eine Kabeltrommel, nur in klein. Weißes Pulver gegen «Wundstarrkrampf». Was das wohl ist? Wenn man bei einer schlimmen Wunde nicht mehr weggucken kann? Eine Blutvergiftung erkennt man an einem roten Strich, der von der Wunde aufs Herz zuwächst. Er darf das Herz nicht erreichen, sonst ist man tot.
    Wir wandern nach Liebstadt, «die kleinste Stadt Sachsens». Erst mal auf der Chaussee, «im Gänsemarsch», immer auf der linken Seite, damit uns die Autofahrer sehen können. Oder wir sie? Vorsicht, meistens kommen zwei Autos hintereinander. Zu Fuß gehen ist uns viel zu anstrengend, jeder Schritt kostet Überwindung. Schade, daß es keine Sprungfederschuhe gibt, und daß Beamen noch nicht erfunden worden ist. Dennis rülpst alle paar Meter, er macht das schon seit dem ersten Tag. «Singt doch mal ein Lied», sagt Wulf. Alle brüllen: «99 Handgranaten, fliegen auf den Kindergarten …»
    Eike hält die Hand raus, und zu unserem Entsetzen bremst wirklich ein Lada. Aber Wulf geht energisch dazwischen, bevor Eike einsteigen kann. Warum muß man immer durch die Gegend laufen? Aus Langeweile übe ich, so in die Fäuste zu pusten, daß es wie ein Käuzchen klingt, einmal hat es schon geklappt, aber ich weiß nicht, wie ich das hinbekommen habe. Wir schreien, so laut wir können: «Scheiß Finkenfang! Scheiß Finkenfang!» Das ist das andere Akademie-Ferienlager, keiner von uns ist je dort gewesen oder weiß auch nur, wo es sich befindet, aber es muß irgendwo in Sachsen sein, und wir hassen «die» aus Finkenfang.
    Wir haben Wulf im Verdacht, an Henriette interessiert zu sein, weil wir mit den zehnjährigen Mädchen aus ihrer Gruppe wandern müssen. Mir sind die kleinen Mädchen eigentlich lieber als die großen, man kann sie mit Sprüchen beeindrucken oder ihnen Spitznamen geben, und man merkt richtig, wie stolz sie sind, daß man ihnen seine Zeit widmet. Für sie ist alles, was man ihnen erzählt, etwas besonderes, an das sie sich noch lange erinnern werden.Ich muß gar nichts dafür tun, bewundert zu werden, ich muß nur älter sein und freundlich. Ich bin bei ihnen richtig populär, weil ich mich immer über sie lustig mache. Es macht mich stolz, und ich bin über meine Fürsorglichkeit gerührt, wenn ich mich auf die Straße stellen darf und sie mit ausgebreiteten Armen vor den Autos beschütze, weil sie ins Steinhaus müssen. Vielleicht bin ich für sie so etwas wie Dolly früher für mich.
    Nach ein paar hundert Metern biegen wir von der Chaussee in einen Forstweg ein, der bergauf durch den Wald führt. Manche rennen gleich rechts und links des Wegs ins steil nach oben führende Unterholz, sie kommen aber nicht weit und hängen im Gestrüpp fest. Moosflatschen werden geworfen, Steine krachen gegen die Baumstämme, schade, daß sie davon nicht umfallen. Die ersten bauen schon in aller Schnelle an einer Höhle. Der modrige Geruch erinnert mich an unsere Ausflüge mit der Familie. Ich

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