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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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beste zu sein, weil ich durch meine Herkunft schon alles weiß. Ich würde ihnen die Augen dafür öffnen, daß in den Kochanleitungen, die auf der Rückseite von Dr.-Oetker-Produkten stehen, immerZutaten von Dr. Oetker empfohlen werden, das war doch ein Trick. Meine Cousins aus Rendsburg haben ja immer so schlechte Zensuren, lauter Dreien. Das sei aber bei ihnen wie bei uns ein «Sehr gut», bei uns sei die Schule ja leichter. Es gebe ja auch nur keine Arbeitslosen, weil in den Fabriken alle rumsäßen. Ich hatte außer in «Schrift» noch nie eine Drei, schließlich muß man als Christ doppelt so gut sein wie die anderen, das schärft uns unsere Mutter immer ein.



23 Wir brechen in ein wildes Jubelgeschrei aus, rütteln an den Betten und hämmern mit den Hockern auf die Holzdielen, weil uns eben mitgeteilt wurde, daß Rita abgereist ist.
    «Ist sie entführt worden?»
    «Ist doch egal, Hauptsache weg.»
    «Oder ermordet?»
    «Nee, dann müßte sie doch nicht weg.»
    Hat sie «rübergemacht»? Jörg weiß es nicht. Sie hat keinen Brief hinterlassen, aber ihre Sachen sind nicht mehr da. Immer, wenn wir Alkohol getrunken haben, verschwindet ein Leiter? Können auch Frauen Zombies sein? Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, sie tut mir eigentlich leid. Ich dachte selbst beim Grafen von Monte Christo immer, daß ich an seiner Stelle nicht so nachtragend gewesen wäre. Rita kann doch eigentlich nichts dafür, daß sie so ist, wie sie ist. Sie ist doch nicht von selbst so geworden, sondern weil sie so erzogen worden ist. Man kann sich doch nicht aussuchen, wer man ist. Oder doch? Könnte ich mich einfach entschließen, ab jetzt ein guter Mensch zu sein? Aber es wäre ja nur vorgespielt. Oder denkt man irgendwann gar nicht mehr darüber nach, wie beim Zähneputzen?
    An den Abhängen des Tals wird Holz für das Lagerfeuer gesammelt, das wir auf der Wiese hinter dem Schwimmbecken für den letzten Abend aufschichten, jede Gruppe ist einmal dran. Wir sollen darauf achten, kein Espenholzzu nehmen, aber wie sehen denn Espen aus? Erika würde ich noch erkennen. Wir entwickeln den Ehrgeiz, einen besonders großen Haufen Holz und Reisig zusammenzutragen. Ich würde mich aber mehr freuen, einen Meteoriten zu finden oder vielleicht sogar ein Stück von einem abgestürzten Satelliten. Wir sammeln nicht nur Holz, sondern auch Weinbergschnecken, die wir ins Lagerfeuer werfen wollen. Unter dem Bungalow halten wir schon welche in einer Schachtel gefangen. Laut durch den Wald rufend tauschen wir uns aus. Die Sprache ist uns entglitten, immer mehr Begriffe stellen sich als «versaut» heraus, wenn man erst einmal darüber nachdenkt. «Astrid, ich würde dich ja gerne
begreifen
.» Oder, wenn Jörg uns mit den Worten weckt: «Hoch die müden Glieder!» Ausgerechnet das Wort «Ding» ist am heikelsten, man tut besser daran, es ganz zu vermeiden. Wenn einer einen Ast heranschleppt: «Dein Ding ist ja riesig.»
    «Ej, du Muschi!» sage ich, als Dennis mir einen Kienapfel an den Kopf wirft. «Weißt du überhaupt, was eine Muschi ist?» fragt mich Henriette. Ich schäme mich, das war eigentlich gar nicht ich gewesen, der dieses Wort benutzt hat, das war nur eine Art zu reden. Aber wie soll ich ihr das erklären? Diese Peinlichkeit ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, sie wird sich erst in sehr viel Zeit auflösen, wie Salz in Wasser, und trotzdem wird Henriette noch an ihrem Lebensende etwas davon in ihrem Gedächtnis spüren.
    Auf dem Rückweg mit dem Handwagen, in dem wir das Holz transportieren, werden wir von zwei Motorrädern überholt, die vor uns auf der Straße halten, der Motor läuft weiter. Zwei junge Männer mit schwarzen Lederjacken und Nierenschutz. Hinter einen von ihnen setzt sich Birgit,und sie knattern davon. «Integralhelme», sagt Marko. Später erfahren wir, daß es Freunde von ihr aus Berlin sind. Sie verbringen den Tag auf der Lagerfeuerwiese, wo sie nebeneinander im hohen Gras liegen. Hier war Opa Schulze noch nicht mit seiner Sense. Wir würden gerne wissen, was sie dort tun. Was sagt Holger dazu? Müßte er sich nicht duellieren? Wenn man schnell mit dem Motorrad fährt, bleibt dem Mädchen auf dem Rücksitz nichts übrig, als sich fest an einen zu schmiegen. Aber ich habe meiner Mutter versprochen, nie Motorrad zu fahren, man muß nur in einer Kurve ausrutschen und hat schon ein Bein weniger.
    Marko liegt im Bett und sagt kein Wort mehr. Wir denken erst, wir müßten ihn nur provozieren, dann würde er wieder

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