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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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lebendig, aber er starrt an die Decke und reagiert auf nichts.
    «Dem platzt der Sack.»
    «Aber es sind doch noch vier Jahre.»
    «Bis dahin hat er Krebs.»
    «Laß mal ’n Profi ran.»
    Dennis hält Marko das Star-Wars-Buch vors Gesicht und sucht hastig nach der richtigen Seite.
    «Schnell!»
    Marko stöhnt und dreht sich zur Wand.
    «Den müssense kastrieren, sonst wird er impotent.»
    Jörg will, daß wir zum Abschlußfest als «Micky-Maus-Bande» gehen. Lustlos haben wir Hosen aus Kreppapier und Micky-Maus-Ohren aus Pappe gebastelt. Wir fühlen uns gedemütigt, daß er von uns so etwas Kindisches verlangt. Wir werden das nicht anziehen. Er hat uns deshalb die heutige Disko verboten. Wir liegen in den Betten undschmieden Rachepläne. Alle rüber, ihn ans Bett fesseln und auf eigene Faust zur Disko gehen? Ich triumphiere heimlich. Die Mädchen werden es schon noch eines Tages bereuen, nicht entschiedener darauf gedrungen zu haben, mit mir zu tanzen. Lieber hier liegen und noch mal alle Witze durchgehen. Das Westauto, das aus der Kurve fliegt, jemand will Erste Hilfe leisten, da tritt ein Mann mit Gewehr aus dem Gebüsch: «Schieß dir selber einen!»
    Die Disko läuft schon, wir hören die Musik durch die Nacht herüberschwappen. So hört sich das sonst immer für die Tiere im Wald an. Wir brüllen: «
In der Nacht, in der Nacht, wenn der Büstenhalter kracht, wenn der Bauch explodiert, kommt ditt Baby rausmarschiert!
» Wir haben uns in den Kopf gesetzt, das Lied zu singen, bis wir begnadigt werden. Aber wir brauchen gar nicht lange durchzuhalten, ein Demonstrationszug bewegt sich auf unseren Bungalow zu. Sogar Henriette und die Basteltante sind mitgekommen. Sie stehen vor unserem Fenster und besprechen, wie wir Jörg umstimmen können. Holger wird vorgeschickt, er kommt aus Jörgs Zimmer zurück: «Der ist total fertig.» Ich weiß nicht, wie ich mir das vorzustellen habe. Vielleicht stand er schon mit dem Hals in einer Schlinge da? Holger wirkt beeindruckt. Aber Jörg hat nachgegeben. Alle jubeln und springen aus den Betten, um sich anzuziehen. Ich trotte im Waschbärnicki hinterher und versuche, so langsam zu gehen, daß die Gruppe erst gegen Ende der Disko da ist. Wenn man es wie Achilles macht, der die Schildkröte nie einholt? Aber natürlich müssen wir «geschlossen» über die Straße.
    Wieder stellen wir einen Hocker zwischen uns und mischen. «
Deutschland, Deutschland, hörst du mich!
» Dieseinnere Wallung bei der Stelle, so ein rebellisches Bewußtsein der eigenen Kraft. «Deutschland» ist ja verboten.
    «Im Westen ist auch nicht alles Gold … die Punker leben da von Hundefutter.»
    «Aber bei der Bundeswehr kann man abends nach Hause gehen.»
    «Unklar …»
    «Ich stell mich jeden Mittwoch um 14:00 Uhr am Plattenladen auf der Schönhauser an, weil sie nach der Mittagspause die neuen Lizenzplatten rauslegen. Und wenn’s nur Roger Whittaker gibt, nehme ich die trotzdem, zum Tauschen.»
    «Wenn Honni vorbeifährt, zieht die Stasi die Bäume gerade.»
    «Wenn du Mosambikaner triffst, darfst du nie sagen, daß du aus Staßfurt kommst, dann schlagen die dich zusammen. In Staßfurt hat die nämlich mal wer Neger genannt.»
    Aus Staßfurt kamen doch unsere Fernseher? Warum waren da Mosambikaner? Als dieses afrikanische Land sozialistisch geworden ist und die Menschen lesen lernten, hatte sich herausgestellt, daß viele von ihnen eine Brille brauchten. Wir hatten in der Schule unsere alten Brillen abgeben sollen, als Spende. Deshalb stelle ich mir die Mosambikaner immer mit meiner alten Brille vor. Hoffentlich hat ihnen jemand erklärt, daß man das Pflaster abmachen muß.
    Die englischen Texte verstehen wir nicht. Es spielt aber keine Rolle, was gesungen wird. In meinem Bauch kribbelt es von der Musik, ich sitze wie am Grund eines Ozeans, während draußen ein Orkan tobt. Ich kann alle sehen, bin aber selber unsichtbar. Bei den langsamen Liedernkribbelt es besonders, um sich die auszudenken, haben die Sänger etwas durchleiden müssen, wie die Liebe zu einem blinden Mädchen, das einen auf der Straße nicht sieht. Aber in Wirklichkeit geht es in den Liedern darum, wie ungerecht es ist, daß ich nicht tanzen kann.
    Gelächter, wir drehen uns zur Tür. Ein Wesen mit großen, runden Ohren steht dort, eine Art lebensgroße Version der mißlungenen Micky-Maus-Kopie aus Gummi, die es bei uns im Schreibwarenladen zu kaufen gibt. Die Ohren stehen nicht richtig ab. Hat niemand Peggy gesagt, daß wir die

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