Schneckenmühle
ärgert meinen Vater, wir sind doch auch Deutsche.
Eigentlich muß ich los zum Bus, aber ich kann ja rennen. Die Sonne scheint auf die vertrauten Gegenstände, es ist seltsam, daß ich nicht einfach hierbleiben kann. Würde dann die Polizei kommen? Ist es nicht ein Lebensziel, die Wohnung möglichst selten verlassen zu müssen? Das angenehm abgegriffene Holz der breiten Sessellehne, auf die man alles stellen kann, was man im Lauf eines Fernsehabends braucht. Mit einem Strohhalm Kakao trinken, «Trinkröhrchen» steht da drauf, vielleicht, weil sie nicht mehr aus Stroh sind. Strohhalme aus dem Westen werden abgewaschen und wiederverwendet. Eine Blase platzt auf, darin pures Kakaopulver. Den Strohhalm am praktischen Knick langziehen und wieder zusammenschieben und sich das Geräusch anhören.
In der verrußten Umkleidekabine zwänge ich mich in die zu kurze Arbeitshose aus ausgewaschenem, hellblauem Stoff. Die billigen Knöpfe sind so fest angenäht, daß man sie kaum durchs Loch bekommt, der Stoff quietscht dabei. Der PA-Meister gilt als nett, da haben wir Glück, daß wir den erwischt haben. Arbeitsschutzbelehrung, keine Liebeleien und Neckereien am Arbeitsplatz! Keine Werkzeuge in die Hosentaschen, Verletzungsgefahr. Das zu beachten, nennt sich «Bassow-Methode». («Zwei arbeiten, und vier‹bassen uff›, wann Feierabend ist.») Es heiße im übrigen «Schraubendreher» und nicht «Schraubenzieher», man «drehe» ja und «ziehe» nicht. «Gliedermaßstab» und nicht «Zollstock». «Glühlampe» und nicht «Glühbirne». «Materialermüdung»? Schon mal gehört? Die «Mamai»-Methode, von einem Herrn Mamai erfunden, besteht darin, den Jahresplan überzuerfüllen, indem man täglich den Tagesplan übererfüllt. Aber: «Nicht so genau wie möglich, sondern so genau wie nötig.»
In der Werkhalle der Geruch von Bohrmilch und Aluminiumwolle, die Mädchen mit Haarnetz, Gewinde wird in Eckstücke von Rohrleitungen gefräst. Oder wir montieren rote Starkstromdosen. In der nächsten Woche schrauben wir alles wieder auseinander, weil keine neuen Teile gekommen sind. Im Pausenraum Wandzeitungen mit vergilbten Zeitungsausschnitten und Diagrammen früherer Wettbewerbe: «
Material- und Zeitreserven auf der Spur
». Die Arbeiterinnen haben ihren eigenen Tisch, wo sie mißmutig rauchen und aus Tassen mit abgebrochenem Henkel Kaffee trinken. Sie tragen blaue Perlonkittel über ihren Blusen. Im Licht der flackernden Neonröhren kauen wir unsere Stullen und trinken aus den gleichen angeknabberten Plastetassen, die wir schon im Kindergarten hatten. Es gibt Zitronentee aus einem großen Kanister. Ich öffne meine Stullenbüchse aus Aluminium, die vielleicht andere Schüler in einem anderen Betrieb hergestellt haben. Wurststullen und Apfelstücke, die aber schon braun sind. Es nieselt auf die Schrottberge und Kokshaufen, aus denen sie dieses Land gebaut haben.
Die Witze vom Lehrmeister haben uns schon die anderen Klassen erzählt: «Heißt die Hauptstadt der USA ‹New York›oder ‹Neff York›?» Man muß sich dumm stellen, er ist Berufsschüler gewöhnt. Nicht den Finger in die Fräse stecken! «Ham wir alles schon gehabt!» Drehen sei ein «spanendes» Arbeitsverfahren, kein «spannendes»! «Wer war der erste Held der Sowjetunion? Iwan Lokomofeilow, der hat eine Lok aus einem Stück gefeilt.» Man muß uns nicht antreiben, der Ehrgeiz kommt von allein. Es macht ja eigentlich Spaß, die Handgriffe einzustudieren, man wird so eigenartig ruhig, und man kommt ins Erzählen. Wer wohl «drankommt», wenn «Honnie» mal abkratzt? Daß Diamant und Graphit eigentlich das gleiche ist. Und in einem Hinterhof an der Schönhauser hat die Polizei im Müll Leichenteile von einem Baby gefunden.
Ich melde dem Lehrmeister, daß auf dem Hof ein Faß mit alter Bohrmilch durchgerostet ist und die weißgraue Brühe in den Ascheboden sickert. Das ist doch bestimmt umweltschädlich? Ein Tropfen Fit reicht doch schon, um 1000 Liter Wasser zu verderben. Der Lehrmeister sieht es sich an und drückt mit seinem breiten Daumen eine Schraube ins Rostloch.
Die Dämmerung auf dem Heimweg, das porige Grau der Altbauten verschwimmt mit dem Himmel. Hinter dem Busfahrer stehen und seine Handbewegungen studieren. In den neuen Ikarus-Bussen sind die Knöpfe zum Türöffnen in einer Linie angebracht und etwas konkav geformt, damit sie sich bequemer drücken lassen. Wenn an jeder Tür jemand aussteigen will und sie alle leuchten, läßt der Fahrer den
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