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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Zeigefinger von oben nach unten über die Knopfleiste gleiten. Wir lauern die ganze Fahrt auf diese Handbewegung. Ebenso reizvoll ist es, wenn niemand den Aussteigeknopf gedrückt hat und der Bus an einer Stationeinfach nicht hält. Kann der Fahrer nicht die anderen Busse überholen? Nein, so etwas werden wir wohl nie erleben. Wir müssen uns gedulden, bis nach einer Strecke mit Feldern und Kleingärten die Häuser unseres Wohngebiets auftauchen, hinter jedem Fenster eine Familie.

22 Nachts besuchen uns die Mädchen, wir sitzen uns auf zwei der unteren Betten gegenüber und lassen eine grüne Weinflasche kreisen. Die Flüssigkeit riecht nach Altstoffsammlung. Ohne sie vorher abzuwischen, setze ich die Flasche mit dem ungewohnt schmalen Hals an, es schmeckt überhaupt nicht so schlimm wie früher, wenn man beim Geburtstag der Eltern an den Gläsern der Erwachsenen riechen durfte. Ich bin glücklich über diese Entdeckung und nehme einen großen Schluck, als wäre es Apfelsaft.
    «Meint ihr, daß Wulf drüben arbeitslos ist?»
    «Man kann doch Flaschen wegbringen, für Westgeld.»
    «Ich glaub, drüben gibt’s kein Geld für Flaschen. Ich hab mal mit meinem Cousin eine Flaschenpost gemacht, und als er gehört hat, daß man bei uns für Flaschen Geld kriegt, hat er den Brief wieder rausgepopelt und gesagt, er bringt nächstes Jahr eine Flasche von ihnen mit, weil die nichts kosten.»
    «Bei Selters sind die Flaschen teurer als die Selters.»
    «Dann könnte man ja die Selters wegkippen und die Flasche abgeben und würde dabei noch verdienen.» «Äh?»
    «Wulf ist doch Mathematiker, da wird der nicht arbeitslos drüben, Mathematik ist doch überall gleich.»
    «Vielleicht ist er auch an der Grenze gekascht worden?»
    «Bei uns an der Schule ist mal einer im Niemandsland aus der S-Bahn raus und wollte über die Mauer, aber er ist zur falschen Seite gelaufen.»
    «Woher wußten die denn dann, daß er in den Westen wollte?»
    «Der hatte ein Stofftier und seinen Kassettenrekorder dabei.»
    «Ich würde gerne mal in den Westen, aber nur gucken.»
    «Die stillen ihre Kinder, bis sie in die Schule kommen.»
    Die gräßliche Erstarrung, wenn man sich bei einer Peinlichkeit ertappt fühlt oder wenn die Mädchen einen wegen irgendetwas feindselig ansehen. Diese Mauer von Garstigkeit der Mädchen und das ewige Gekampel der Jungs. Durch den Wein ist das wie weggeblasen. Wir sind plötzlich Freunde. Wenn die Mädchen jetzt ihre Hemden über den Kopf ziehen würden, damit wir ihre Brüste betrachten könnten, wäre alles gut.
    «Stück mal ’n rück.»
    «Mein Vater kann trinken, und unten pinkelt er es gleichzeitig wieder raus.»
    «Der Korken klemmt.»
    «Schmeiß mal rüber, ick kann ditt mit de Zähne.»
    «Bist ’n Bär, bist ’n Kugelschrei-Bär.»
    «Aua, der klemmt wirklich.»
    «Hier, ich hab einen Korkenzieher am Messer.»
    «Und ’ne Säge?»
    «Das ist ein Schweizer Offiziersmesser. Die sind immer mit Säge, zum Beine amputieren.»
    «Hast du Isoband und Draht, dann kommst du bis nach Leningrad.»
    «Kann ich jetzt mal das Radio haben?»
    «Mein Opa setzt nie Kopfhörer auf, weil er im Krieg Funker war.»
    «Soll ich mal die Schnecken holen?»
    «Ihr seid so eklig.»
    «Wieso, die kann man essen, da gibt’s Geld für, wenn man die zum Restaurant bringt.»
    «Ditt
war
übrigens ’ne SR2, vielleicht war die noch nicht umgebaut.»
    «Ditt war ’ne SR1, die hatte doch die langen Tretarme.»
    «Wenn man bei Colt Seavers auf Schwarz-Weiß dreht, sieht Jody an der einen Stelle fast nackt aus.»
    «Mein Cousin fährt nicht mehr ins Ferienlager, weil die Kinder hier so falsch singen.»
    «Wieso heißt das Lager eigentlich ‹Schneckenmühle›? Hier gibt’s doch gar keine Mühle?»
    Beim Einschlafen stelle ich mir vor, daß ich aus einem Flugzeug springe und in der Luft durch geschickte Körperhaltung den nächsten See ansteuere. Ich habe ein bißchen Angst, daß man beim Sturz aus solchen Höhen selbst an Wasser zerschellt, man muß sich wahrscheinlich ganz spitz machen und dazu die Arme vorstrecken. Aber wenn sich beim Aufprall das Wasser zwischen die Nägel drängt und sie von den Fingerkuppen spaltet? Einen Gedanken weiter verfolge ich den Weg einer amerikanischen Spezialeinheit, die sich im Schutz der Nacht im Dauerlauf über die Grenze und durch Wälder und Gebirge bis zu mir durchschlägt, um mich zu entführen. Ich sehe mich zwischen meinen neuen Mitschülern sitzen und das Gefühl genießen, in der Schule der

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