Schnee an der Riviera
ich bin gerade so unausstehlich.«
Valeria errötete vor Freude. Sie war eine zartbesaitete und einfühlsame Frau. Nelly spürte Dankbarkeit in sich aufsteigen, dass es auf der Welt auch Menschen wie sie gab und nicht nur Verbrecher und brutale Mörder, wie sie manchmal glaubte. Die Menschen lösten in ihr seit neustem ein Gefühl des Grauens aus. Seit sich sogar der Junge, den sie selbst geboren hatte und der mit ihr unter einem Dach lebte, quasi in einen Fremden verwandelt hatte, machten sie Nelly Angst. Keine reale, eher eine metaphysische Angst, sozusagen. Ihre Gesichter erschienen ihr wie Masken, hinter denen sich Monster verbargen. Masken, die von einem auf den anderen Moment abfallen oder zerbröseln konnten wie in einem Horrorfilm, um darunter etwas ganz anderes zum Vorschein zu bringen. Etwas Böses. Gewaltsam riss sie sich von diesen Gedanken los, die ihr alle Energie raubten und ein frustrierendes Gefühl der Ohnmacht zurückließen, wie in ihrem Traum neulich, als Gian gerade erneut das Gewehr anlegte. Genau so fühlte sie sich momentan auch im realen Leben.
»Verdammt, eine Depression ist jetzt wirklich das Letzte, was ich gebrauchen kann!« Sie raffte sich auf und machte sich, nachdem sie Valeria ciao gesagt hatte, auf den Weg zu ihrer Verabredung mit Basile.
Die Gassen waren dieselben, auch die Gesichter. Sie war es, die nicht mehr dieselbe war. Das wurde ihr klar, als sie in denselben Carruggio einbog, in dem sie ein paar Tage zuvor ... ja, Matteo Albini in die Falle gelockt hatte. Niemand war unterwegs, nur eine nicht mehr ganz junge Prostituierte stand da und wartete auf einen Kunden, der vergangenen Zeiten nachhing. Sie war etwa so »nicht mehr ganz jung« wie sie. Früher hatte es viele ihrer Art in der Altstadt gegeben, doch mittlerweile waren sie von den üppigen, lärmenden Schwarzen mit ihren bunten, über den Brüsten spannenden T-Shirts und den blassen, blutjungen Sklavinnen des Ostens abgelöst worden, und nicht mehr viele hielten die Fahne hoch. Nelly lächelte der Frau zu, die die Stirn runzelte und ihr misstrauisch mit den Blicken folgte. Wer war diese große Rothaarige, die durch die Gasse schritt, als gehöre sie ihr? Doch die Kommissarin war in Gedanken schon wieder bei dem bevorstehenden Treffen mit Basile und den »Enthüllungen«, die er ihr versprochen hatte. In der Zwischenzeit war ihr klargeworden, dass ihr Treffpunkt genau jener Platz war, wo sie Matteo Albini »verloren« hatte, und ihre Hände kribbelten vor Aufregung.
Auch die Piazzetta war wie ausgestorben, abgesehen von zwei räudigen Katzen, die ausgestreckt und schläfrig vor einer nagelneuen, glänzend grünen Tür in der Sonne lagen. Basile hockte auf einem Poller in der Nähe. Als er sie sah, hob er kurz die Hand und wandte sich ohne ein Wort der Begrüßung direkt zur Tür. Sie folgte ihm stumm. Vor der Tür nahm der Mann einen Dietrich aus der Jackentasche und steckte ihn ins Schloss. Die Tür öffnete sich geräuschlos, dahinter lag ein dunkler und kühler Gang. Eine Treppe mit hohen Schieferstufen führte steil nach oben, Basile schloss die Tür hinter ihnen und begann, mit einer angesichts seiner Leibesfülle unerwarteten Beweglichkeit, hinaufzusteigen. Nelly folgte ihm anstandslos. Bestimmt fünf Stockwerke Stufen, schließlich ein Treppenabsatz mit zwei dunklen Wohnungstüren. Die rechte von ihnen war weniger leicht zu öffnen als die Haustür, doch der Brigadiere schaffte es. Nelly fragte sich, was zum Teufel sie da tat, außer eine nicht näher definierte Zahl von Gesetzen zu brechen, doch sie spürte, dass sie diese perfekte, nagelneue, bis ins kleinste Detail renovierte Wohnung sehen musste. Das Äußere des Hauses hätte niemals auf ein so luxuriöses Inneres schließen lassen. Die Wohnung war ein Juwel. Ein kleiner Eingangsbereich mit einem Fenster auf den Seitenhof hinaus. Eine Tür führte direkt in ein recht geräumiges Wohnzimmer mit hellem Parkettfußboden. Der Innenarchitekt verstand sein Geschäft: das Ganze strahlte eine Aura von Luxus und Komfort aus, Senf- und Türkistöne, modernes Design von erlesenem Geschmack. Nelly musste dieses Schmuckkästchen unwillkürlich bewundern, die perfekt ausgestattete Küche, ein riesiges Wasserbett mit Spiegeln an der Decke, wenige, antike Möbel, Wände und Vorhänge, Tagesdecke und Kissen in verschiedenen Blautönen. Fernseher und Videorekorder, eine große Auswahl an Pornofilmen. Dann sah sie das Foto von Monica und Miriam. Am Meer, im Sommer. Es
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