Schnee an der Riviera
undurchdringlichem Blick sah sie die beiden an, als hätte sie nur auf deren Besuch gewartet. Als Habib noch bei Nelly ein und aus gegangen war, hatten sie sich nie getroffen. Nelly stellte sich vor, erwähnte die Freundschaft zwischen Mau und ihrem Sohn, fragte, ob sie hereinkommen dürfe, und musterte Habibs Mutter genauer. Unter ihrem verlebten, verbitterten Äußeren blitzte die Schönheit des Mädchens hervor, das sie einmal gewesen war, und ihre Augen waren genau die ihres Sohnes. Sie war sicher noch keine vierzig, doch ihr Gesicht sah wesentlich älter aus. Dagegen wirkte Nelly fast jung. Die Figur indes war makellos, ein bisschen drall am Busen und um die Hüften, aber wohlgeformt und sinnlich. Nelly warf einen verstohlenen Blick zu Privitera hinüber, um sich der Wirkung zu vergewissern, und tatsächlich lag auf dem stets coolen Gesicht ihres Assistenten ein gewisses Leuchten, das dort nur bei besonders anziehenden fimmine 1 aufschimmerte. Nelly grinste in sich hinein.
»Wir suchen Ihren Sohn, Signora. Wir wollen ihm ein paar Fragen zu den Vorfällen am Gymnasium stellen.«
»Habib ist nicht da.«
Sie hielt inne, als müsse sie nachdenken. Dann schien sie ein wenig Vertrauen zu fassen und sagte zögernd:
»Ich mache mir Sorgen. Habib ist nicht mehr nach Hause gekommen. Seit dem Tag vor dem Unglück, als er zur Schule gegangen ist. Er bleibt öfter mal nachts weg, manchmal sogar ein paar Tage. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, weil ...«
»Weil, Signora?«
Ihr Italienisch war sehr gut, nahezu perfekt. Habib hatte einmal erzählt, dass sie seit zwanzig Jahren in Genua lebte. Er und seine kleine Schwester Hadija waren hier geboren.
»In letzter Zeit ist er ein bisschen seltsam. Aber mir sagt er ja nichts. Inzwischen ist er ein Mann und macht, was er will.«
In ihren letzten Worten lag Bitterkeit, aber auch Stolz.
»Was wissen Sie von Habibs Geschäften, Signora?«
»Geschäfte?« Sie klang ehrlich verblüfft. »Habib ist Schüler, der macht keine Geschäfte. Er verdient ein bisschen Geld im Anatra azzurra in der Via della Maddalena, um mir unter die Arme zu greifen. Er ist ein guter Junge, sehr verantwortungsvoll.«
Sie sah sie herausfordernd an. Die Ähnlichkeit mit ihrem Sohn war nicht zu übersehen.
Nelly blickte sich aufmerksam um und bemerkte den teuren Flachbildschirm an der Wand. Eine Tausend-Euro-Stereoanlage stand in einer Ecke. Und ein brandneuer Computer. Auf dem großen Bett lag eine geschmacklose, teure Brokatdecke. Die Frau folgte ihrem Blick, sagte aber nichts. Ansonsten war der Raum kahl. Hinter einem Vorhang war eine Pritsche zu sehen, womöglich Habibs Bett. Zwei Sitztruhen und ein arabisches Tischchen. In einer Ecke die Kochnische. Blitzsauber und ordentlich. Genau wie Habibs Mutter. Glattes, schwarzes, schulterlanges Haar, weißer Pullover, schwarzer Rock. Kajal umrandete Augen, sehr rote Lippen. Lediglich durch zwei vergitterte kleine Fenster zur Gasse und eine schmale Luke im Bad, die auf einen dunklen Schacht hinausging, sickerte das Tageslicht herein. Die Blicke der Frau (wie hieß sie doch gleich? Ah, richtig, Fatima) wanderten unruhig zwischen Nelly und Privitera hin und her. Vor ihm schien sie fast ein wenig Angst zu haben, Nelly vertraute sie offenbar eher.
»Können Sie ihn suchen?«
Sie hatte so leise gesprochen, dass Nelly sie nicht sofort verstand.
»Dafür ist es eigentlich noch ein bisschen früh, doch unter den gegebenen Umständen ...«
Angst blitzte in Fatimas Augen auf.
»Was wollen Sie damit sagen? Dass es noch mehr Tote geben könnte?«
»Noch mehr Tote? Wie kommen Sie denn darauf, Fatima? Aber nicht doch. Wir brauchen Habib als Zeugen, genau wie seine Mitschüler und die Lehrer, und deshalb wäre es gut, ihn möglichst bald zu finden, das ist alles.«
Nelly machte eine Pause.
»Signora, wissen Sie, ob Ihr Sohn etwas mit Drogen und Drogenhandel zu tun hat?«
Das Gesicht der Frau wurde aschfahl. Sie schien zu schwanken.
»Aus irgendeinem Grund hat sie eine Heidenangst, und sie verheimlicht uns etwas«, dachte Nelly.
»Nur weil wir Marokkaner und arm sind, haben Sie noch lange kein Recht, uns so zu behandeln. Uns zu beleidigen. Das ist alles gelogen, nichts als üble Nachrede, der pure Neid.«
»Nichts läge uns ferner, als Sie zu beleidigen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht wissen, wo Habib abgeblieben ist? Hat seit gestern jemand nach ihm gefragt? Hat jemand angerufen oder ist hier vorbeigekommen?«
Hilflos irrte der Blick der Frau durch das
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