Schneebraut
Die Polizeiwache erinnerte manchmal eher an ein Café als an einen Arbeitsplatz; es war eher so eine Art sozialer Treffpunkt. Es gab eine feste Kundschaft, von denen einige mehrmals in der Woche zum Kaffeetrinken kamen und über Gott und die Welt plauderten. Der Bankencrash, die Demonstrationen und die Regierung standen besonders hoch im Kurs der beliebtesten Diskussionsthemen, und dann natürlich auch das Wetter. Die Besucheranzahl in der Kaffeeecke der Wache war auffallend groß in den ersten Tagen nach Aris Ankunft im Norden – sie alle wollten sich den Jungen aus dem Süden einmal ansehen.
Tómas hatte in der Kaffeestube auf der Wache mehrmals erwähnt, dass Ari studierter Theologe sei.
»Nein … das stimmt nicht ganz«, fuhr Ari jeweils schnell dazwischen.
»Aber du hast doch Theologie studiert, nicht wahr?«
»Ja …«, Ari zögerte. »Ich habe das Studium aber nicht abgeschlossen. Habe eine Pause eingeschoben, um die Polizeischule zu besuchen.« Es überraschte ihn selbst, dass er das Wort »Pause« in diesem Zusammenhang benutzte; im Innersten war er sich sicher, dass er das Theologiestudium nie zu Ende bringen würde.
»Tja, da schau mal einer her!«, sagte ihr Kollege, Hlynur mit Namen, der bereits seit einigen Jahren hier im Norden mit Tómas zusammenarbeitete. Er war fünfunddreißig, oder so ähnlich, und etwas sarkastisch in seiner Art, als ob er damit verhindern wollte, dass ihm jemand zu nahe käme. »Ein Theologe unter uns!«
Ari lächelte etwas gequält, ließ es aber so gut wie möglich an sich abblitzen.
»Wirst du etwa jetzt die Probleme lösen, mit denen wir nicht zurechtkommen?«, fragte Hlynur. »Mit Hilfe einer höheren Gewalt?«
Tómas und er lachten.
»Pfarrer Ari«, sagte Hlynur. »Pfarrer Ari löst das Rätsel!«
Nach dieser Episode nannten die unterschiedlichsten Leute ihn entweder »Hochwürden« oder »Pfarrer Ari«. Er spielte mit, obwohl Titel ihm noch nie besonders gefallen hatten, und schon gar nicht in dieser Situation, in der er mit einem Studium in Verbindung gebracht wurde, das er nur aus Unentschlossenheit heraus begonnen und nie zu Ende gebracht hatte.
Am ersten Tag auf der Wache hatte er versucht, Kristín anzurufen; sie hatte nicht geantwortet. Er schickte ihr eine Mail und erzählte kurz von der Reise in den Norden, von Tómas und dem Haus. Er unterließ es, ihr zu beschreiben, wie er sich fühlte: dass dieses Kaff am Ende der Welt ihn mit so viel Dunkelheit und Schläfrigkeit begrüßt hatte, dass er noch immer enttäuscht war, wie sie auf sein Jobangebot reagiert hatte, enttäuscht darüber, dass sie sich nicht hatte freinehmen wollen, um mit ihm in den Norden zu fahren und ein Wochenende mit ihm zu verbringen, ihm zu helfen, sich am neuen Ort einzurichten. Vielleicht wollte sie es ihm ja auch nicht zu einfach machen. Vielleicht hoffte sie, dass er nach wenigen Wochen wieder nach Reykjavík zurückkehren würde, überwältigt von Schnee und Einsamkeit.
Am Tag danach las er ihre Antwort. Sie schrieb von der Arbeit, vom Studium – sie erzählte auch davon, dass ihr Vater seinen Job bei der Bank verloren hatte, wo er seit Jahrzehnten angestellt gewesen war. Einer von vielen, dem gekündigt worden war. Ari konnte sich vorstellen, dass ihr das sehr naheging. Er musste zudem daran denken, dass ihre Mutter in einem Architektenbüro arbeitete; mit Sicherheit würden die Auswirkungen der Krise besonders in dieser Branche nicht lange auf sich warten lassen. Kristín schien die Situation in keiner Weise im Detail diskutieren zu wollen – die Mail war kurz und frei von jeglicher Gefühlsduselei.
Ari erreichte sie telefonisch am nächsten Tag. War gerade von einer langen Schicht nach Hause gekommen und nicht wirklich in Stimmung, um Probleme zu bereden, die ihm so schwer auf der Seele lagen. Das Gespräch war oberflächlich, frei von Aufrichtigkeit und Tiefe. Er war sich nicht vollkommen im Klaren darüber, ob er allein die wichtigen Themen mied oder sie beide. Kristín war eigentlich schon immer eher ruhig und besonnen gewesen, hatte sich durch alltägliche Begebenheiten nie aus der Ruhe bringen lassen. Vielleicht ging das ganze Drama, das Ari so stark in Anspruch nahm – dieser ungeklärte Zustand –, vollkommen an ihr vorbei. Sie redeten ab und zu miteinander, die Gespräche waren aber kurz, und an manchen Tagen ließen sie es mit einer Mail gut sein.
Doch nun musste er sie anrufen. Es war bereits Advent. Er musste es ihr sagen; man konnte nicht gerade
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