Schneebraut
Kinder denken, die schon lange aus der Stadt weggezogen waren – beide waren verheiratet, hatten Kinder. Es war unwahrscheinlich, dass sie ihr zu Hilfe kämen, sie besuchten die Eltern nur selten, nur in den Sommerferien und an den Feiertagen.
Nein, sie war allein mit diesem unbekannten Mann.
Er stand immer noch unbeweglich und schien das Wohnzimmer zu mustern. Das Wohnzimmer war wirklich stattlich, wie aus einer Designerzeitschrift herausgeschnitten; zwei Aquarelle an der Wand – Landschaftsbilder vom Land –, ein stilechter Wohnzimmertisch und ein modernes Ledersofa, eine alte Holzkommode – ein Erbstück aus der Familie ihres Mannes – und zudem der Sessel des Hauses, ein unglaublich teures Designerstück aus Leder, das ihr besonders am Herzen lag. Sie schnappte tief nach Luft, als er sich auf den Ledersessel fallen ließ und mit der Messerspitze über die Lehne strich, dann zu ihr hinüberblickte, etwas sagte, ein Wort, mit heiserer Stimme, ein halbes Flüstern, als ob er nicht wollte, dass sie später seine Stimme wiedererkennen könnte. Das war eigentlich positiv, genauso wie die Tatsache, dass er sein Gesicht verhüllt hatte – vielleicht würde er sie am Leben lassen.
Sie hatte ihn nicht richtig gehört, bat ihn, es zu wiederholen. Er fragte nach dem Schmuck. Das ist also einfach ein verdammter Dieb, dachte sie bei sich.
Sie stand auf, ihr wurde schwindlig, sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten und deutete zum Flur, in Richtung Treppe. Der Schmuck befand sich hauptsächlich im Schlafzimmer im oberen Stock – die teuren Stücke hatte ihr Mann allerdings im Tresor im kleinen Abstellraum unten weggesperrt, zusammen mit verschiedenen Dokumenten und anderen Wertsachen, aber zum Glück wusste sie die Zahlenkombination nicht, um den Tresor zu öffnen.
Er hielt noch immer das Messer in der Hand, salopp, aber doch, als ob er es auch benutzen würde. Sie strauchelte die Treppe hoch, er folgte ihr; der schwere Schritt echote in ihrem Kopf. Sie zeigte ihm sofort die Schmuckschatulle im Schlafzimmer, sah keinen Grund, warum sie das hinauszögern sollte – glaubte immer noch fest daran, dass er sie am Ende freilassen würde.
Er kippte den Inhalt der Schatulle auf das Bett und wühlte darin herum – wühlte in allen Erinnerungen; da war der Verlobungsring, Geburtstagsgeschenke, Hochzeitsgeschenke. Sie dachte an ihren Mann; was, wenn er sie nicht freiließe, was wenn … Sie dachte an die Zukunft; die älteren Jahre, die guten Jahre – wenn sie öfters verreisen, sich die Welt anschauen wollten.
Sollte dieser verdammte Kriminelle das alles zerstören? In diesem Augenblick beschloss sie, dass er damit bei ihr nicht durchkommen würde.
10. Kapitel
Siglufjörður,
Sonntag, 14 . Dezember 2008
Es war unglaublich, dass sie schon zwei Jahre zusammen waren. Ari erinnerte sich daran, als ob es erst gestern gewesen wäre, als er einen Spaziergang in die Innenstadt gemacht hatte, um das erste Weihnachtsgeschenk für Kristín zu kaufen. Er musste gerade daran denken, als er vor Uglas Haus stand und die Kirchenglocken laut im Fjord widerhallten. Der Klang der Glocken echote im ganzen Dorf, und es war unmöglich herauszufinden, woher er eigentlich kam. Ari drehte sich unvermittelt um und blickte zu den Bergen hoch, das Geläut schien von dort und nicht von der Kirche zu kommen. Plötzlich sah er die Berge nicht mehr, sondern erinnerte sich an den ruhigen Abend am Reykjavíker Stadtteich Tjörnin vor zwei Jahren.
Er hatte keine Lust mehr gehabt, noch länger für die Weihnachtssemesterprüfungen in seinen Theologiebüchern zu lesen, hatte Kristín allein zu Hause gelassen und war in die Stadt geschlendert. In der Buchhandlung, die abends lange geöffnet war, hatte er zwei Bücher für sie gekauft und war dann zum Tjörnin spaziert, bevor er wieder nach Hause flanierte. Das Wetter war außergewöhnlich windstill gewesen, die Kälte kroch ihm den Hals hinab, es war bewölkt und doch irgendwie hell, denn die Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Dunkelheit, wohin man auch blickte. Er war beim Tjörnin stehen geblieben, hatte den Rücken zum Parlamentsgebäude gedreht, das alte Theater Iðnó lag zur Linken und das Rathaus zur Rechten. Nur wenige Menschen waren unterwegs gewesen, und er betrachtete die Häuser, als ob er nicht selbst dort anwesend sei, als sei er lediglich ein Zuschauer, der ein schönes Bild betrachtete, ein Panorama, das sich langsam von links nach rechts bewegte. Kränze am Fenster, ehrwürdige
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