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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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Häuser, funkelnde Weihnachtsbäume, die Kirchenglocken der Domkirche läuteten, es war neun Uhr. Es gab nichts Schöneres, als diese friedliche Stimmung zu spüren, wie sie dem lärmenden Treiben in der Stadt überlegen war. Die Enten auf dem Tjörnin schnatterten die Kirchenglocken an, und diese antworteten. Lange Zeit stand er bewegungslos da und nahm die Stimmung in sich auf, die Zeit verstrich langsamer, als er es sich zuvor hatte vorstellen können.
    Die Kirchenglocken läuteten noch immer; aber dieses Mal waren es die Glocken von Siglufjörður. Für einen Moment hatte er Zeit und Raum völlig vergessen und war von seinen Erinnerungen eingeholt worden. In diesem Moment legte sich eine Hand sanft auf seine Schulter, ganz leicht, und doch reichte es, dass er zusammenzuckte. Er dachte automatisch an Kristín. Hatte seit einigen Tagen nichts mehr von ihr gehört. Dabei wusste er, dass das nicht Kristín sein konnte.
    Er drehte sich um und lächelte.
    Da stand sie, Ugla, seine Klavierlehrerin – in einer dunkelblauen Jeans und einem schneeweißen T-Shirt –, drei-oder vierundzwanzig, schlank, groß gewachsen. Es war, als ob ein Glanz von ihr ausginge, und doch hatte sie so traurige Augen. Der Schimmer der Außenbeleuchtung fiel auf ihr langes, blondes Haar. Sie lächelte zurück.
    »Willst du nicht reinkommen? Du erfrierst ja noch in der Kälte hier draußen.«
    Ari war vor zwei Wochen über eine Anzeige im Supermarkt gestolpert. Er wollte schon sehr lange Klavierspielen lernen, hatte es aber nie in Angriff genommen. Er hatte von der Anzeige ein kleines Stück mit Telefonnummer und Namen abgerissen, und kam nun zur zweiten Unterrichtsstunde.
    Er war so angezogen, dass er der Kälte trotzte, sah aber, dass sich auf Uglas Unterarmen eine Gänsehaut abzeichnete, da sie im kurzärmligen T-Shirt auf der Treppe stand.
    Muskelkontraktion in der Haut
. Ari erinnerte sich an die medizinischen Erklärungen von Kristín, als er ihr einmal ganz klischeehaft erklärt hatte, dass er jedes Mal Gänsehaut kriege, wenn er sie sähe.
    »Ja, danke.« Er hing die Daunenjacke an einen Haken im Eingang und schloss die Tür hinter sich. »Ich konnte natürlich nicht üben seit der letzten Stunde, ich habe ja kein Klavier – ich bin sicher der schlimmste Schüler, den du je gehabt hast.«
    »Mach dir keine Sorgen. Der schlimmste und der beste. Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich dir gleich gestehe, dass du auch mein erster Schüler bist. Ich weiß nicht mehr so genau, was in mich gefahren war, als ich diese Anzeige damals aufgehängt habe. Der alte Hrólfur hatte mich auf die Idee gebracht.«
    »Hrólfur – der Schriftsteller?« Ari hatte von dem alten Meister gehört, der immer noch im Dorf lebte.
    »Ja, er ist unglaublich, der alte Mann. Du solltest ihn wirklich kennenlernen – dir ein Buch signieren lassen. Jedes könnte das letzte sein! Er ist zwar unglaublich fit für sein Alter – und so was von klar im Kopf.«
    »Ja, ich habe allerdings noch nie etwas von ihm gelesen, aber vielleicht bietet sich ja mal die Gelegenheit, ihn zu treffen.«
    »Du musst
Nördlich der Heide
lesen – das ist sein Meisterwerk, sein einziger Roman, absolut genial; ansonsten hat er nur Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben.«
    »Aha, das wusste ich nicht …«
    Ugla unterbrach ihn: »Ich werde es dir leihen. Es ist für mich signiert, deshalb darfst du auch keinen Kaffee darüber schütten!« Sie lächelte. »Willst du übrigens etwas zu trinken? Kaffee?«
    »Hast du auch Tee?« Er hatte an der Uni genug Kaffee getrunken und sich nun angewöhnt, Tee zu trinken.
    »Ja, setz dich doch schon mal – ich hole den Tee.«
    Ari setzte sich auf den tiefen, roten Sessel, ließ die Arme auf der Lehne ruhen und musterte das Zimmer. Ugla hatte ihm gleich in der ersten Klavierstunde erzählt, dass sie die Wohnung mit allen Möbeln gemietet hatte, eben auch mit dem alten Klavier. Eines stand außer Frage: Ein junges Mädchen hätte sich ihr Wohnzimmer nie auf diese Art und Weise eingerichtet. Hier wehte ganz entschieden ein Wind aus alter Zeit.
    Der schöne Holzboden wurde weitgehend von einem braun und weiß gemusterten Teppich verdeckt. Im Raum standen zwei kleine Bücherregale, dunkelbraun und zweckmäßig angebracht, der Vermieter hatte offensichtlich seine Bücher mitgenommen, denn in den Regalen befanden sich nur wenige Taschenbücher, Krimis abwechselnd mit Liebesgeschichten, und ein sorgfältig gebundenes Buch,
Nördlich der Heide
, von Hrólfur

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