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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ragnar Jónasson
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Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung sei.«
    Ari nickte, hatte aber Mühe, sich zu konzentrieren. Dazu kamen noch die Schmerzen in der Schulter. Er hatte am Morgen Schmerztabletten eingenommen, doch die nützten nur wenig. Es ging ihm durch den Kopf, dass er nun endlich einen Arzttermin vereinbaren sollte, doch er wollte warten und zusehen, ob sich die Sache nicht von allein richten würde.
    Tómas holte sich eine weitere Tasse Kaffee und setzte sich.
    »Hör mal, Meister – bevor ich es vergesse … Der alte Þorsteinn hat mich gestern angerufen. Könntest du heute einmal bei ihm vorbeigehen?«
    »Þorsteinn?« Tómas schien manchmal anzunehmen, dass er alle aus Siglufjörður beim Namen kannte.
    »Ja, entschuldige – der alte Þorsteinn ist Jurist. Hatte seinerzeit eine Anwaltskanzlei in Akureyri, ist aber jetzt Rentner und deswegen wieder in seine Heimat zurückgezogen. Er hat immer noch einige Klienten, aber ich glaube, die werden immer weniger. Nicht etwa, weil er sein Fach nicht beherrscht, sondern einfach, weil sie das Zeitliche segnen.«
    »Ja, okay.« Ari wusste aber immer noch nicht, warum dieser Anwalt ihn treffen wollte.
    »Er hat mich, wie gesagt, gestern angerufen«, sagte Tómas. »Er hat das Testament von Hrólfur. Hat gemeint, dass er bis nach der Beerdigung gewartet hat, um es zu öffnen. Dachte, dass wir vielleicht Kenntnis über den Inhalt haben möchten – da Hrólfur ja wahrscheinlich ermordet worden sei, wie er es ausdrückte! Ich hatte das Gefühl, dass er äußerst zufrieden damit war, uns bei einem so spannenden Mordfall einige Informationen zuspielen zu können …« Tómas lächelte zum ersten Mal, seit Ari auf die Wache gekommen war. Koffein schien tatsächlich einen guten Einfluss auf ihn zu haben.
    »Testament?«, fragte Ari erstaunt. »Das kann ich kaum glauben. Ich dachte, dass er kein Testament verfasst hätte.«
    »Das Leben ist doch immer wieder für eine Überraschung gut.« Tómas nahm einen Schluck und seufzte.
    ***
    Alles war weiß, so weit das Auge reichte, die Straßen waren weiß, die Schneewehen auf dem Gehsteig noch weißer. Der Himmel war weiß, was ein untrügliches Zeichen war, dass die nächsten Schneeflocken nicht lange auf sich warten lassen würden. Die Berge waren weiß, auch wenn hier und da ein schwarzer Fleck hervorguckte. Im Dorf herrschte ein kurzfristiger Waffenstillstand der Naturgewalten, doch allen war klar, dass dieser Friede früher oder später wieder gestört werden würde, wenn das Unwetter weiter tobte. Es war nicht möglich, die Straße nach Siglufjörður sofort zu räumen, zumindest nicht heute – die Bewohner blieben auch weiterhin Gefangene des Schnees. Ari versuchte, sich auf das Testament zu konzentrieren, das Treffen mit Þorsteinn, versuchte – jetzt wie schon so oft zuvor –, nicht an den Schnee zu denken.
    Der Anwalt wohnte in der Suðurgata, in einem stattlichen, weißgestrichenen Einfamilienhaus, das auf den ersten Blick wohl im dritten oder vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden war. Ein großer Garten umgab das Haus, die Bäume bogen sich unter dem schweren Schnee, wahrscheinlich war das für viele ein schöner Winteranblick.
    Þorsteinn öffnete fast gleichzeitig mit Aris Klingeln die Tür, als ob er Aris Ankunft mitverfolgt hätte.
    »Willkommen. Komm herein.« Er war um die achtzig Jahre, trug eine dicke Brille auf der Nase, hatte dünnes, graues Haar, war kompakt gebaut, trug einen graukarierten Anzug mit Krawatte und eine karierte Weste.
    »Willkommen.« Eine alte Dame trat in die Eingangshalle und nahm vorsichtig Aris Hand. »Ich heiße Snjólaug; ich bin Þorsteinns Frau«, sagte sie und lächelte. »Wie schön, jemanden zu Besuch zu haben.« Man konnte ihrer Stimme entnehmen, dass hier nur selten Gäste empfangen wurden.
    »Dürfen wir dir etwas anbieten? Kaffee und Kuchen?«, fragte Þorsteinn.
    »Nein, aber vielen Dank.« Ari lächelte, wollte sich gleich der Sache widmen.
    »Wollen wir nicht in meinem Büro Platz nehmen?« Der alte Mann schaute Ari gutmütig an.
    Das Büro hätte man auch Bibliothek nennen können, Bücher bedeckten drei von vier Wänden. Der Schreibtisch des Anwalts war mit Schnitzereien versehen, rotbraun und zweifelsohne unglaublich schwer. Auf dem Tisch stand eine alte grüne Lampe, die dem Zimmer ein gedämpftes Licht verlieh, zumal die Deckenlampe nicht eingeschaltet war und der Vorhang vor einem Fenster zugezogen war. Auf der Mitte des Tisches

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