Schneebraut
Küchentisch und betrachtete die Aussicht vor dem Fenster, wenn man das denn Aussicht nennen konnte.
Kommt an so einem Ort irgendwann auch mal der Frühling?
Er gab es schnell auf, zog die Vorhänge zu – zog sämtliche Vorhänge zu.
Er hörte die Neuigkeiten der Nacht nicht vor Mittag, als er das Radio einschaltete. Es überwältigte ihn förmlich, als er von der Lawine erfuhr. Keiner war unter ihr begraben worden, zum Glück – sie war auf die Straße auf der anderen Seite des Berges gefallen und hatte den einzigen Zugang zum Dorf versperrt, der gleichzeitig auch der einzige Weg
aus
dem Dorf
heraus
war. Jetzt käme niemand auf dem Landweg weder hinein noch heraus – und der Seeweg war kaum eine Option. Es war, als ob in diesem Moment, bei diesen Neuigkeiten, alle Kraft aus ihm wich. Er versuchte, ruhig zu atmen, aber es nützte nichts, sein Herz raste. Er hörte, wie der Sprecher berichtete, dass es keinen Sinn hätte, den Weg heute freizuräumen, auch morgen noch nicht, der Wetterbericht sei einfach zu schlecht. Der Rest der Nachrichten ging in einer Art Rauschen unter; unverständliche Worte, die alle ineinanderverschwammen.
Er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung sei. Ein zeitlich begrenzter Zustand. Der Weg würde in den nächsten Tagen freigeräumt werden. Er öffnete die Haustür, wollte dem Wetter direkt ins Auge sehen. Der Sturm hatte sogar noch zugelegt, und vor der Tür hatten sich Schneewehen aufgetürmt. Ari schloss schnell die Tür.
Das wird schon wieder werden.
Er raffte sich auf und rief auf der Wache an, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Tómas antwortete, bestätigte, dass unter der Lawine keiner begraben worden sei und dass es keinen Grund gäbe, warum er sich in seiner freien Zeit zum Dienst melden sollte. Tómas fügte noch hinzu, dass Karl in dieser Situation mit Sicherheit nicht nach Reykjavík fahren könne.
Ari ging wieder hinauf, legte sich hin und versuchte, wieder einzuschlafen, lag mit geschlossenen Augen still da – stundenlang.
Er schaltete wieder das Radio ein, um die Abendnachrichten zu hören. Die Straße war noch immer gesperrt. Es wurde nicht damit gerechnet, dass sie vor Dienstag wieder befahrbar sein würde. Nach der Nachricht griff er zum Hörer. Er musste Kristín anrufen. Er musste mit jemandem sprechen.
Es klingelte. Er wollte gerade wieder auflegen, als sie abhob.
»Hi.« Kurz angebunden, als ob sie keine Zeit habe, mit ihm zu reden.
»Hi, wie geht’s?«
Ugla, der Kuss; das schlechte Gewissen lastete schwer auf ihm – wie konnte er so tun, als ob nichts geschehen wäre?
Ugla
– der Name hallte in seinem Kopf wider. Dröhnend, allumfassend.
»Hör mal … ich bin am Arbeiten.«
Einmal mehr. Immer am Arbeiten, nie hatte sie Zeit für irgendetwas.
»Ja, okay … Es schneit und schneit und schneit hier nur. Es ist heute Nacht sogar eine Lawine runtergekommen.« Es tat gut, das Wort laut auszusprechen. Lawine.
»Ja, genau.« Sie klang, als ob sie mit den Gedanken irgendwo ganz anders sei. »Ich habe es im Radio gehört. Es bestand aber keine Gefahr für das Dorf, war es nicht einfach irgendwo in der Umgebung – auf dem Weg nach Siglufjörður? Ich habe mir, ehrlich gesagt, keine Sorgen gemacht.«
Das war alles richtig. Es klang so unschuldig, wie sie es sagte. Er beruhigte sich etwas.
»Wie läuft es sonst bei dir?«
»Weißt du, ich muss dich später anrufen – ich kann eigentlich nicht so richtig mit dir plaudern, wenn ich am Arbeiten bin«, sagte sie mit knappen Worten.
»Nein … genau. Wir sprechen uns dann später.«
Sonntag. Klavierabend. Ugla. Würde sie ihn erwarten? Konnte er sich nach dem Kuss blicken lassen – nachdem er geflohen war? Er schaffte es nicht, irgendeine Entscheidung zu treffen und legte sich wieder hin.
Zum Teufel
. Er hatte nichts zu verlieren. Er stand auf, ging die Treppe hinunter, zog die Daunenjacke an, stülpte die Kapuze hoch und band sich einen dicken Schal um; watete in den Schnee hinaus, über Schneewehen und durch das Unwetter, verengte die Augen, um überhaupt etwas sehen zu können. Er hatte das Handy zur Sicherheit mitgenommen, falls Kristín anrufen sollte.
Falls
.
Ugla begrüßte ihn, als ob nichts geschehen sei, in denselben Kleidern wie gewöhnlich; sie trug eine dunkelblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und strahlte wahrhaftig. Sie bat ihn hinein.
Sie saßen bis spät im Wohnzimmer, redeten über alles und nichts, hatten die Klavierstunde vergessen, die Wohnung
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