Schneeflockenbaum (epub)
Takte.
»Etwas schneller«, sagte sie, »und ein bisschen mehr ›body‹. Nicht solche schlappen Blubbertöne. Los, mit Elan voran!«
Ich spielte ein wenig schneller. Wieder unterbrach sie mich.
»Noch ein wenig konsequenter im Takt, bitte. Und deutlicher artikulieren. Noch einmal.«
Schließlich gelang es mir tatsächlich, die ganze Einleitung zu spielen, ohne von ihr unterbrochen zu werden, auch wenn ich sie ab und zu Furcht einflößend schnauben hörte. Sie setzte ein. Nie werde ich es vergessen. Ich kannte die Sonate nicht. Man hört sie selten, denn über die Frage, ob sie wirklich von Bach stammt, wurden ganze Bücher geschrieben. Dennoch kann man sich kaum vorstellen, dass die Noten des Andante nicht von Bach sind. Möglicherweise hat einer seiner Söhne ein Stück komponiert, und Vater Bach hat dann hier und da ein paar Noten verändert, gestrichen oder hinzugefügt. Wie dem auch sei, während ich den Basso continuo so gut wie möglich zu spielen versuchte, erklang vor diesem Hintergrund plötzlich ihr voller, warmer Ton. Es war, als flehte ihre Stimme, sich auf Flügeln emporschwingen zu dürfen, und als würden meine Bassnoten sie zurückhalten, wodurch ihre Stimme mit der Zeit etwas Schmerzliches bekam. Ja, natürlich, sie war eine hervorragende Flötistin, und darum klang ihre Partie auch phantastisch, und ich wurde dadurch mitgerissen, wuchs über mich selbst hinaus. Ich hatte Tränen in den Augen, als wir gemeinsam die Schlussnote erreichten.
Sie bemerkte es, hob erstaunt die Augenbrauen und sagte ruppig: »Das war gar nicht so schlecht. Wie lange hast du Unterricht?«
»Seit ich hier in Leiden studiere, seit vier Jahren also.«
»Davor nie Unterricht gehabt?«
»Nein, ich hätte gerne Stunden genommen, aber Klavierunterricht, das war bei uns zu Hause undenkbar. Eitles, weltliches Vergnügen, das einen nur vom einzig Nötigen abhielt, von Gott, dem Herrn, und von seinem Dienst.«
»Schade, denn man kann eigentlich nicht früh genug anfangen. Man hört, dass deine Finger noch nicht geschmeidig genug sind. Tonleitern, Tonleitern und nochmals Tonleitern, das muss deine Devise sein. Sollen wir das Andante noch einmal spielen?«
Wir spielten das Andante noch einmal. Wieder schossen mir Tränen in die Augen, wieder war es, als hielte die Oberstimme ein Plädoyer für ein wenig mehr Freiheit und als hielte die Hauptstimme die Oberstimme im Zaum und zwänge sie so zu einem bewegenden, liebreizenden Klagegesang. Als wir fertig waren, musste ich mich schnäuzen.
Sie sagte kühl: »Hier, ein Papiertaschentuch.« Dann fragte sie mich etwas weniger distanziert: »Lust, was zu trinken?«
»Hättest du eine Tasse Tee für mich?«
Während sie irgendwo hinten in der Wohnung Tee kochte, spielte ich die Sonate G-Dur von Haydn, deren Noten ich schon aufgeschlagen neben dem Flügel hatte liegen sehen. Obwohl das Wasser laut im Kessel brodelte, hörte sie offenbar, dass ich mich ständig verspielte. Sie kam nämlich laut stampfend ins Zimmer gerannt und rief: »Stümper! Da steht ein as, und du spielst jedes Mal ein a.«
»Entschuldige«, sagte ich kleinlaut.
Sie ging zurück in die Küche. Ich wagte es kaum noch zu spielen. Nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte, fragte sie: »Was machst du?«
»Ich studiere Biologie. Ich habe meine Zwischenprüfung gemacht und muss nun in drei Abteilungen nach Wahl meine Diplomprüfung machen. Zurzeit bin ich bei den Parasitologen, und ich hoffe, dass ich nach meinem Diplom dorthin zurückkann. Parasiten sind so faszinierend. Alle Organismen werden von Parasiten geplagt, und manche Parasiten wiederum werden von anderen Parasiten geplagt, die ihrerseits von wieder anderen Parasiten befallen sind, manchmal bis zur vierten Potenz sozusagen. Das ist alles so bizarr, oft auch so erschreckend grausam. Wenn dahinter ein Schöpfer steckt, dann muss es einer mit unglaublich morbiden Phantasien sein.«
»Parasiten? Was meinst du damit? Bandwürmer und so was?«
»Ja.«
»Pfui Teufel. Und das gefällt dir?«
»Es ist faszinierend.«
»Du spinnst.«
»Wenn du das Leben und die Evolution verstehen möchtest, dann musst du dich in die Parasitologie vertiefen. Sex – eigentlich ein überflüssiges Phänomen, denn Klonen ist tausendmal effizienter und kostengünstiger – ist wahrscheinlich die Antwort auf den allgegenwärtigen Parasitismus. Ein Rettungssprung, durch den die Organismen all den Viechern, die sich in ihren Muskeln, Därmen und Organen, ja sogar in ihrem Hirn und in
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