Schneeflockenbaum (epub)
Satz ziemlich gut einstudiert, doch überall ließ ich Noten aus, um im Takt zu bleiben. Bei jeder Note, die ich ausließ, zuckte sie zusammen.
Als wir den Doppelstrich erreicht hatten, sagte sie: »Noch einmal, jetzt aber langsamer, und Gnade deinen Fingern, wenn du wieder Noten auslässt.«
Wir spielten und wiederholten diesen Satz so lange, bis sie mehr oder weniger zufrieden war. Ich war verärgert, wütend sogar. Was gab ihr das Recht, mir immer wieder zuzurufen: »Genauer! Pass auf hier! Disziplin, das ist das Zauberwort! Nicht so abgehackt, bitte! Zierlicher, einfacher! Lass es wie einen Tanz klingen. Bei Bach tanzt die Musik! Sein ganzes Werk wurzelt in all den alten Tänzen: die Gigue, das Menuett, die Allemande, die Courante, die Sarabande. Sogar der Schlusschor der Matthäuspassion ist eine Sarabande. Du musst tanzen, hüpfen, komm schon, du kannst es. Schummeln ist unnötig.«
Und dann spielten wir wieder das Andante. Wieder durfte ich den schönen Basso continuo spielen, der unerschütterlich fortschreitet. Und sie spielte die wunderbaren Melismen darüber, und ich dachte: Wie ist es bloß möglich, dass so ein Drache es vermag, derart herrliche, warme, volle Töne aus einer Flöte zu zaubern? Sie muss ein großes, warmes Herz haben, sonst könnte sie nicht so herrlich spielen. Nachdem die Schlussnote verklungen war, reichte sie mir wieder ein Papiertaschentuch. Sie sagte kühl: »Du bist aber schnell gerührt. Wie kommt das?«
»Ich finde das Stück so überwältigend.«
»Ein ganz normales Andante. Bach hat eine ganze Menge solcher Stücke komponiert. Es stimmt, es ist schön, aber es reicht nicht an die Sonate h-Moll heran. Das ist mit Abstand seine beste Flötensonate.«
»Dann müssen wir sie einstudieren.«
»Sie ist noch zu schwer für dich, fürchte ich, aber wenn du meinst, dann lass uns den Anfang probieren, das Hauptthema.«
Sie stellte die Klaviernoten vor mich hin und stimmte ihre Flöte. Vorsichtig spielte ich all die Noten, und sie blies ihre Partie dazu, doch schon beim vierten Takt ging es schief, und sie sagte: »Da siehst du’s, zu schwierig.«
»Spiel deine Partie noch mal«, sagte ich. »Irgendwas darin kommt mir bekannt vor.«
Sie spielte ihre Noten.
Ja, da war es wieder. Was verbarg sich in den Sechzehnteln? Welche Melodie hatte Bach darin versteckt? Ich starrte auf die Noten, summte leise vor mich hin, spielte ihre Partie auf dem Klavier nach. Plötzlich sah ich es, hörte ich es, und ich sagte: »Weißt du, welche Choralmelodie Bach in deiner Partie versteckt hat?«
Und feierlich spielte ich »Aus tiefer Not schrei ich zu dir«.
»Hast du’s gehört?«, sagte ich.
Sie sah mich mit großen Augen an. »So etwas entdeckst du einfach so?«
»Schon beim ersten Mal hab ich etwas Bekanntes gehört.«
»Du bist ... du hättest ... von wegen widerliche Parasiten ... du hättest Musik studieren sollen ... Unglaublich.«
»Komm«, sagte ich, »lass uns rausgehen, Erdbeeren und Kirschen kaufen.«
»›Aus tiefer Not schrei ich zu dir‹, unglaublich.« Sie schaute sich ihre Partie noch einmal aufmerksam an und sagte dann: »Im Unterricht habe ich diese Sonate mit meinem Lehrer Note für Note durchgenommen, aber er hat nicht erwähnt, dass Bach hier ›Aus tiefer Not‹ variiert. Er hat es bestimmt nicht gewusst, aber für die Interpretation ist das sehr wichtig. Es ist ein Hinweis darauf, wie man das Stück spielen muss. Nicht munter, nicht fröhlich, sondern ernst und feierlich – aus tiefer Not.«
»Ich sehe, du hast noch so ein altes Koffergrammofon mit einem Lautsprecher als Deckel. Hast du vielleicht eine Schallplatte mit der ›Aus tiefer Not‹-Sonate? Ich würde sie gern mal hören.«
»Ich höre nie Schallplatten«, erklärte sie spitz.
»Warum nicht?«, fragte ich erstaunt.
»All die Musik aus der Dose – wertlos. Musik muss man selbst machen. Passiv hören, das ist genauso, wie Fotos von Schmetterlingen betrachten. Schmetterlinge muss man draußen beobachten, lebendig, wenn sie in der Sommersonne umherflattern.«
»Ja, schon, aber die großen Symphonien ...
»Die muss man im Konzertsaal hören. Live.«
»Was für strenge Ansichten! Aber trotzdem hast du ein Koffergrammofon.«
»Ein altes Ding aus meinem Elternhaus. Mein Vater hat es mir aufgedrängt und dort hingestellt.«
»Du hörst also nie Platten? Hast du denn auch keine?«
»Ich besitze eine einzige. Zu Hause geklaut. Weil ich sie so schrecklich schön finde. Brahms, ein paar Lieder und
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