Schneeflockenbaum (epub)
die Altrhapsodie mit Kathleen Ferrier.«
»Ich kenne die Altrhapsodie nicht.«
»Du kennst sie nicht? Das ist mein Lieblingsstück.«
»Lass hören.«
»Gut, aber denk dran: Lass es mich nicht merken, wenn sie dir nicht gefällt, denn sonst will ich dich nie wiedersehen.«
Schön fand ich die Altrhapsodie anfangs überhaupt nicht. Welch eine bestürzende Traurigkeit. Was für durch und durch graue Akkorde. Und dann die trägen, klagenden, jammernden Männerstimmen im Hintergrund. Woran anschließend jedoch, wenn man mehr oder weniger zerschmettert ist von so viel grausiger Grauheit, die Musik plötzlich nach C-Dur aufklart und eine schwere Altstimme singt: »Ist noch ein Psalter«. Einverstanden, es ist eine Art Psalm, den Brahms dort anstimmt, aber zugleich auch der bewegendste Psalm, der je einem Menschenherzen entsprungen ist.
Obwohl ich höllisch aufpasste, mich in ihrem Beisein nicht gehen zu lassen – ein Papiertaschentuch, das war wirklich genug gewesen –, und obwohl ich ebenso verbissen gegen die Tränen ankämpfte, wie ich seinerzeit im Kindergarten mit meinen Verdauungsproblemen gerungen hatte, konnte ich es doch nicht verhindern, dass plötzlich Tränen über meine Wangen kullerten.
Sie schloss die Augen und tat so, als habe sie nicht bemerkt, dass ich wieder leise vor mich hin flennte. Als die Musik schon lange zu Ende war und ich auf das Glitzern der Wellen im Nieuwe Rijn starrte, sagte sie nur: »Du bist vielleicht schnell gerührt. Herzallerliebst ist das.«
Ich wusste nicht sogleich, was ich darauf erwidern sollte. Trotzdem wollte ich vergessen machen, ungeschehen machen, dass ich mir erneut in die Karten hatte schauen lassen. Also sagte ich einfach: »Fast jeder in unserem Alter schwört auf die Beatles oder die Rolling Stones oder Elvis Presley, obwohl es doch wirkliche Musik gibt, Bach, Brahms, Händel, Mozart und so weiter. Kannst du das verstehen?«
»Ach, die Beatles sind gar nicht so übel.«
»Nun, ich finde, das sind Stümper, und die Stones, das ist nichts anderes als betrüblicher Tinnef, von dem geleckten Fettsack aus Memphis ganz zu schweigen. Aber gut, wie dem auch sei. Der Punkt ist, dass man, wenn man den ganzen Mist nicht mag, überall außen vor bleibt.«
»Mich kümmert das nicht. Ich komme im Musikschulorchester nur mit Menschen zusammen, die die Beatles und die Stones wie du verabscheuen. Das ist genauso spießig. Lass den Leuten doch die Beatles! Es ist doch gerade schön, dass nicht alle Brahms lieben. Wenn du Brahms verehrst, dann bist du in exquisiter Gesellschaft. Was will man mehr?«
Deckmantel
S chon seit meinem ersten Besuch über dem Kurzwarengeschäft bereitete ich mich darauf vor, wie ich reagieren würde, wenn Jouri erfuhr, dass ich mit einer Querflötenlehrerin Bach spielte. In Gedanken führte ich regelrechte Gespräche mit ihm über Katja. Darin sagte ich zum Beispiel: »Ach, hab dich nicht so. Alles ist in bester Ordnung. Wir musizieren zusammen, das ist alles, so what? Du weißt doch auch, dass ich mich niemals in solch eine schnippische, kratzbürstige, mürrische Leptosome verlieben könnte. Zugegeben, sie hat wunderschöne meergrüne Augen, und ihre roten Locken sind entzückend, aber sie weigert sich, etwas anzuziehen, worin sie noch besser aussähe. Immer lange Hosen, nie einen hübschen Rock. Immer flache, stabile Halbschuhe, nie schöne Sandalen mit halbhohem Absatz. Von Pfennigabsätzen ganz zu schweigen. Und das, obwohl sie so klein ist. Und niemals auch nur das kleinste bisschen Make-up. Sag selbst, solch eine Frau, das ist doch nichts für mich. Ein wenig Glamour finde ich toll, hohe Absätze und rauschende Röcke.«
Darauf hörte ich ihn antworten: »Ich weiß nicht. Du gehst in letzter Zeit so oft in Richtung Nieuwe Rijn.«
»Nur deshalb, weil es so befriedigend ist, mit ihr zu musizieren. Sie ist eine Hexe, aber wenn sie spielt, zaubert sie solch einen warmen, lieblichen, herrlichen Klang aus ihrer Querflöte hervor, dass man ihr auf der Stelle ihre ganze Kratzbürstigkeit und all ihre Wutanfälle verzeiht.«
»Aber wenn sie so gut spielt, dann muss es doch für sie eine Qual sein, mit dir zusammen zu spielen?«
»Wieso?«
»So gut bist du doch nicht? Du hast erst seit Kurzem Unterricht. Wenn sie also trotzdem gern mit dir spielt, steckt noch etwas anderes dahinter.«
»Sie unterrichtet mich, weil sie eine Schülerin hat, die jemanden sucht, der sie begleitet.«
»Hast du diese Schülerin schon gesehen?«
»Nein, aber sie wird
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