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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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ich nicht an den Film Das verflixte siebente Jahr , sondern ich befinde mich wieder in Toons Heiligtum am Pieterskerkhof.
    Ich war gern dort! Weil Toon ständig mit seinen Aquarien und seinen Anemonen beschäftigt war und damit auch nicht aufhörte, wenn man ihn besuchte, hatte ich den Eindruck, dass es ihn nicht störte, wenn ich so oft vorbeikam. Eines Abends klingelte ich wieder einmal erwartungsvoll. Toon erschien in der Türöffnung und sagte, er müsse noch weg. Enttäuscht schlenderte ich davon. Als ich in Höhe des Berkendaalsteegje war, sah ich einen Kommilitonen bei Toon klingeln. Die Tür öffnete sich, Toon tauchte auf, und ich hörte, dass er den Mitstudenten nicht nur erfreut begrüßte, sondern auch hineinbat. Verdutzt beobachtete ich, wie der andere im Haus verschwand.
    In diesem Moment schoss mir durch den Kopf, dass mir an den Abenden vorher ein paarmal Edith die Tür geöffnet und mir mitgeteilt hatte, dass Toon leider nicht zu Hause sei. Jetzt wurde mir klar, dass dahinter eine wohlüberlegte Taktik steckte, um mich auf Abstand zu halten. Ich hatte, wie es in englischen Romanen heißt, »outstayed my welcome«. Diese Entdeckung schmerzte mich zutiefst! Mir war, so gern ich mich darüber entrüstet hätte, dass man mich angelogen hatte, nur allzu bewusst, dass Edith und Toon notgedrungen geschwindelt hatten und dass ich ihnen regelrecht die Bude eingerannt hatte. Seitdem traue ich mich kaum noch, Freunde zu besuchen. Und wenn ich irgendwo bin, dann gehe ich auch so schnell wie möglich wieder. Diese halbe Minute im Berkendaalsteegje hat mich zu einem Wesen werden lassen, das nur Blitzbesuche macht.
    Ich glaube, es war im dritten Studienjahr, als ich eines Tages an Toons Tür abgewiesen wurde. Auf jeden Fall passierte es, lange nachdem ich mit ihm, wie bereits berichtet, eine Woche lang in Gulpen ein Doppelzimmer geteilt hatte. In Gulpen wachte ich in der ersten Nacht unseres Aufenthalts in der Pension auf. Toon saß kerzengerade neben mir, die Augen geschlossen. Trotzdem schob er die Decke und das Laken, in das er sich sorgfältig eingewickelt hatte, beiseite und stieg aus dem Bett. Anschließend ging er, die Augen immer noch geschlossen, zur Zimmertür. Er öffnete sie und verschwand auf den Flur. Geht er zur Toilette?, fragte ich mich. Er blieb lange weg. Ich hörte ihn hin und her gehen. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass er schlafwandelte. Ich ging hinaus auf den Flur, wo ich Toon, nicht mit ausgestreckten Armen, wie man es oft in Comics sieht, auf und ab spazieren sah.
    Auch Gerard war aus seinem Zimmer gekommen und kicherte leise vor sich hin. Gerard, unser nettester, fröhlichster, lustigster, unterhaltsamster Kommilitone – ein seeländischer Sam Weller –, konnte seine Beobachtung natürlich nicht für sich behalten. In der nächsten Nacht standen eine Reihe von Mitstudenten in ihren Zimmertüren, um das eigenartige Phänomen mit eigenen Augen zu sehen, das man für gewöhnlich nur aus Büchern kennt oder höchstens dann beobachten kann, wenn man einer Vorstellung der Opern La sonnambula von Bellini oder Macbeth von Verdi beiwohnt. Tatsächlich sah man nichts anderes als einen weißhaarigen Jungen, der erstaunlich bedächtig mit geschlossenen Augen den langen Flur auf und ab ging. Wenn er bei der Treppe ankam, legte er eine Hand aufs Geländer, stand längere Zeit still und drehte sich schließlich um. Vor allem diese Pause jagte mir Angst ein. Aber offenbar weiß ein Schlafwandler: Hier fängt die Treppe an, ich sollte besser umkehren. Übrigens sagte Gerard, als Toon das erste Mal zögernd an der Treppe stand: »Wenn er nicht aufpasst, fällt er noch aus dem Zeitrahmen.«
    Nach drei Nächten hatten ihn fast alle Exkursionsteilnehmer durch den Flur schlafwandeln sehen. Dann war das Ganze nicht mehr interessant, und Toon konnte fortan unbeobachtet seinen Spaziergang machen. Wenn er aus dem Bett stieg, wachte ich jedes Mal auf und konnte nicht wieder einschlafen, bis er zurückgekehrt war, weil ich mir Sorgen machte, ihm könnte etwas passieren. Aber er kam stets nach etwa zwanzig Minuten wieder ins Zimmer und wickelte sich in Decke und Laken.
    Bevor ich – zu Recht oder nicht – bei ihm zu Hause keinen Einlass mehr fand, begleitete ich Toon oft zu Disputationen. Beim Platondisput der Studentenvereinigung Catena hielt er in einem abschüssigen Zimmer über einem Antiquariat an der Langebrug einen Vortrag über Boolesche Algebra. Weil er wusste, dass es in dem Zimmer keine

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