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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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Tafel gab, hatte er alle mathematischen Formeln auf die Rückseite einer Tapetenrolle geschrieben. Regelmäßig zog er die Rolle, die über einer offenen Tür hing, ein Stückchen weiter nach oben. Die erschöpften Teilnehmer der Platondisputation hatten nach einer Stunde Boolescher Algebra nur noch Augen für die Rolle. Wann kam das Ende? Als es so weit war und sie erleichtert aufatmeten, holte Toon eine zweite Rolle aus seiner Tasche. Ein kollektiver Seufzer ging durch den Raum, der eine Windmühle stundenlang angetrieben hätte!
    Ein halbes Jahr später, bei einem Mitarbeiterkolloquium, sprach er über die Räuber-Beute-Beziehung. Er hatte einen Artikel über einen Forscher ausgegraben, der seine Sekretärin mit verbundenen Augen in einem großen Zimmer ein Stück Schmirgelpapier hatte suchen lassen. Aus der Beobachtung des Suchverhaltens der Frau hatte der Biologe ein Modell destilliert, das zeigt, wie ein Räuber seine Beute sucht. Das Modell beschrieb auch, wie ein Parasit einen Wirt sucht. Ohne dass Toon auch nur eine Spur von Erstaunen oder Argwohn darüber zeigte, dass ein Wissenschaftler seine Sekretärin mit verbundenen Augen Schmirgelpapier suchen lässt, schrieb er, rasend schnell sprechend, riesige mathematische Formeln an die Tafel des Hörsaals. Das Ganze nahm kein Ende. Nach anderthalb Stunden hatte ich den Faden verloren, und ich fragte ihn: »Toon, das p dort in der Formel, ist das die Abkürzung für ›Prädator‹, für ›Population‹ oder für ›Parasit‹, oder steht p für ›Wahrscheinlichkeit‹?« Daraufhin unterbrach Toon seine Ausführungen und studierte eine Weile die vielen p in den Formeln. Schließlich sagte er leicht gereizt: »Es spielt keine Rolle, wofür dieses p steht.«
    Eine Frage, die wir uns, umgeben von Seeanemonen, immer wieder stellten und leider ohne jeden Funken von Humor diskutierten, war, ob es auch Durchblickerinnen gibt.
    Toon bezweifelte das. »Mir ist noch nie eine begegnet«, sagte er.
    »Auch Marjolein nicht?«, wollte ich wissen.
    »Nein, sie ist zwar überaus hübsch, wenn man sie im richtigen Zeitrahmen betrachtet, aber sie ist ganz bestimmt keine Durchblickerin.«
    »Und in unserem Studienjahrgang gibt es also auch keine Durchblickerinnen?«
    »Nein«, sagte Toon, »die Mädchen sind nicht einmal durchschnittlich schlau.«
    »Julia auch nicht?«
    »Julia? Die ist schrecklich schwer von Begriff.«
    »Das schon, aber sie ist nicht dumm. Weil sie immer so bedächtig zu Werke geht, scheint sie schwer von Begriff zu sein, aber dumm ist sie wirklich nicht.«
    »Tja, Julia ...
    »Fast alle Jungen unseres Semesters sind oder waren in sie verliebt.«
    »Ach, das musst du als eine Art Epidemie betrachten. Zu Beginn gab es eine große Dichte von Anfälligen, und man hätte mit einer einfachen Annäherungsformel für die asymptotische Verbreitungsgeschwindigkeit einer sich im Raum ausbreitenden Epidemie, wobei man den Zeitrahmen ein wenig hätte ausdehnen müssen, recht leicht die teilweise oder vollständige Infektion unserer gesamten Jungenpopulation in einer mehr oder weniger willkürlich gewählten Richtung beziffern können. Du bist auch infiziert gewesen, aber soweit ich sehe, hast du es überstanden.«
    »Und du?«
    »Natürlich gehöre ich nicht zu der Population der Anfälligen.«

Querflötenlehrerin
    W enn ich in der Musikschule auf dem Rapenburg Klavierunterricht hatte, dann tönten mitten durch meine Durtonleitern hindurch aus den verschiedenen Etagen, aus allerlei Schlupfwinkeln, Molltonleitern, Dreiklänge, verminderte Septakkorde und Solfeggienübungen. »Schöne Sachen kannst du besser zu Hause spielen«, sagte mein Klavierlehrer jedes Mal, »denn Schönes kommt hier nicht zu seinem Recht.«
    Dennoch spielte ich dort an einem grauen Nachmittag die dreizehnte zweistimmige Invention von Bach. Genau über uns waren die schrillen Töne einer schlecht angeblasenen Querflöte zu hören, die eine Tonleiter anstimmte.
    »Nicht mehr lange«, sagte mein Klavierlehrer, »und sie fängt wieder an, mit den Schuhen zu unterrichten.«
    Er meinte die Querflötenlehrerin. Mit den Füßen aufstampfend, äußerte sie immer ihr Missfallen über die meist armseligen Leistungen ihrer Schüler.
    »Eine temperamentvolle Dame«, sagte mein Lehrer, »und das verstehe ich und heiße es gut. Unterrichten ist schließlich nichts anderes, als gut dafür bezahlt werden, dass man sich schlecht gespielte Musik anhört. Aber wenn sie da oben gleich so wütet, dass der Putz von der

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