Schneeflockenbaum (epub)
Decke und in den Flügel fällt, dann renne ich rauf und schleif sie hier rein. Dann kann sie mal sehen, was sie angerichtet hat.«
Seine Drohung war vergeblich. Über uns war die Tonleiter noch nicht verklungen, da brach auch schon ein wahres Pandämonium aus. Es hörte sich an, als stampfte die Querflötenlehrerin mit beiden Füßen auf den Boden. In unserem Unterrichtsraum rieselten riesige Kalkschneeflocken herab. Mein Lehrer sprang auf, rannte raus und schnellte die Treppe hinauf. Offenbar kostete es ihn seine ganze Überredungskraft, sie davon zu überzeugen, dass sie mit ihm runterkommen müsse, denn es dauerte eine Weile, bis er mit ihr wiederkam.
Als ich sie sah, war ich völlig erstaunt, dass eine so zierliche Erscheinung, eine so zarte, schlanke, dürre Frau so viel Putz von der Decke stampfen konnte. Sie hatte kurze rote Locken, große Augen, recht volle Lippen, kaum Busen. Sie trug einen meergrünen Pullover und – damals noch sehr ungewöhnlich – eine Jeans. Dazu stabile flache Schuhe mit Profilsohlen. Natürlich, denn mit hohen Absätzen kann man längst nicht so gut stampfen.
»Schau«, sagte mein Lehrer, »frischer Kalk. Auf dem Flügel, im Flügel, auf meinem Schüler, auf dem Fußboden. Gerade eben heruntergekommen, als dir wieder mal die Hutschnur gerissen ist. Ich gebe zu, die Schüler machen einen manchmal wahnsinnig, aber das geht zu weit. Wenn du trampeln willst, dann unterrichte auf Socken.«
»Wir können den Raum tauschen«, sagte sie bestimmt. »Du oben, ich unten, dann wirst du nicht belästigt, wenn ich explodiere.«
»Der Flügel oben ist eine Katastrophe. Darauf unterrichte ich nicht.«
»So schlimm ist er nicht.«
»Ich gehe nicht nach oben. Es wäre eine kleine Mühe für dich, nicht zu stampfen.«
»Ich verspreche gar nichts.«
Verärgert verließ sie den Raum. Auf der Treppe nach oben klangen ihre Schritte wie Donnerschläge.
»Was für eine Kratzbürste«, sagte mein Lehrer.
Am Samstag darauf schlenderte ich über den Wochenmarkt, der damals noch auf der Hooglandsekerkgracht abgehalten wurde. An einem Gemüsestand vernahm ich eine bekannte wütende Stimme.
»Viel zu teuer, der Porree, geh mit dem Preis runter.«
Neugierig, ob es ihr gelingen würde, den Porree billiger zu bekommen, blieb ich stehen.
»Gute Frau, gestern auf dem Großmarkt kostete Porree einen Gulden fünfzig das Kilo. Ich kann ihn wirklich nicht billiger verkaufen.«
»Eins fünfzig das Kilo, und jetzt wollen Sie eins fünfzig für das Pfund haben. Das macht einen Gewinn von fünfzig Prozent, das ist unglaublich!«
»Fünfzig Prozent?«, sagte ich erstaunt. »Von wegen, das sind einhundert Proz…«
»Halt dich da raus«, fuhr sie mir ins Wort. Erst dann besah sie mich genauer. Sie runzelte die Augenbrauen und sagte gereizt: »Ich kenne dich irgendwoher. Aber woher?«
»Putz«, sagte ich, »in der Musikschule.«
»Oh, warte ... du hattest Klavierunterricht, als Henk mich ausgeschimpft hat. Du hast Bach gespielt, und zwar nicht schlecht. Ich habe eine Schülerin, die auch Bach spielt, die Flötensonaten. Die sucht schon lange jemanden, der sie begleitet. Wäre das nichts für dich?«
»Ich habe wenig Erfahrung im gemeinsamen Musizieren, ich ...
»Gute Frau, wollen Sie den Porree nun haben oder nicht?«
»Ja, schon, wenn er nicht mehr kostet als eins fünfundsiebzig das Kilo.«
»Sie können mir den Buckel runterrutschen!«
»Sie mir auch.«
Gemeinsam verließen wir den Gemüsestand.
Ich sagte: »Ich würde es gern machen, aber ich habe noch nie begleitet, und ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Wenn du halbwegs durch die schwierigen Inventionen kommst, kannst du bestimmt auch einige der Flötensonaten begleiten. Bist du taktfest?«
»Ziemlich.«
»Dann muss es gehen.«
Sie musterte mich, als läge ich auch als überteuerter Porree an einem Gemüsestand, und fragte dann: »Hast du Lust, bei mir zu Hause schon mal zu üben? Ich habe auch ein Klavier.«
»Meinetwegen.«
»Dann erledige ich meine übrigen Einkäufe später, ich wohne hier ganz in der Nähe, über dem Kurzwarengeschäft am Nieuwe Rijn.«
Ohne weitere Formalitäten und ohne mir vorab auch nur eine Tasse Tee oder Kaffee anzubieten, setzte sie mich sogleich an ihr weißes Klavier, stimmte ihre Querflöte, stellte dann die Noten der Flötensonate e-Moll BWV 1034 auf den Notenständer, schlug den langsamen Satz auf und sagte: »Andante. Müsste gehen. Wir versuchen’s.«
Ich spielte langsam die einleitenden
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