Schneeflockenbaum (epub)
hinweg dem Meer anvertraute. Aber das tröstete mich nicht, im Gegenteil, ich fühlte mich hundeelend. Denn als es losging, gab es kein Halten mehr, und ich musste mich immer wieder übergeben, bis ich, vollkommen durchgefroren und nur noch ein elendes Häufchen Mensch, über der Reling hing, um das letzte bisschen Galle aus meinem leeren Magen zu pressen.
So seekrank wie damals bin ich später nie wieder gewesen. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass dies passieren könnte, und hatte keinerlei Vorkehrungen getroffen, es zu verhindern. Selbst als wir kurz vor Harwich in eine Art Bucht mit ruhigerem Gewässer fuhren, nahm das Würgen kein Ende.
»Oh weh«, hörte ich hinter mir eine Stimme. Ich versuchte, mich umzudrehen, was mir jedoch wegen aufkommender Übelkeit nicht gelang.
»Die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte ich matt, »seit drei Uhr pausenlos gespuckt.«
»Das war bestimmt schrecklich.«
Erst als wir im nackten, unbarmherzig grauen Morgenlicht auf dem Kai standen, verschwand die schlimmste Übelkeit.
»Hier, iss einen trockenen Creamcracker«, sagte Katja, »die habe ich immer in der Tasche, für den Notfall. Und nachher im Zug, da trinkst du vorsichtig eine Tasse dünnen Tee. Wirst sehen, wie schnell du dann wieder der Alte und auf dem Damm bist.«
Vorsichtig knabberte ich an dem Creamcracker.
»Ich darf gar nicht daran denken, dass ich heute Abend wieder zurückmuss«, sagte ich. »Noch so eine schlaflose Nacht an der Reling, das überlebe ich nicht.«
»Ach, Junge, erspar dir das lieber. Eine Stunde vor Abfahrt stopfst du dir den Bauch voll Weißbrot. Das wird nur langsam verdaut, und so ist dein Bauch lange gefüllt. Dann nimmst du eine Tablette gegen Seekrankheit. Ich habe welche dabei, davon gebe ich dir eine. Hätte ich bloß gestern Abend daran gedacht! Und was du auch noch tun kannst, ist, eine Schlaftablette zu nehmen. Dann pennst du garantiert eine ganze Weile und überstehst die Nacht wahrscheinlich recht gut.«
»Noch so eine Nacht wie die letzte, und ihr könnt mich begraben.«
Rund anderthalb Stunden lang saßen wir in einem uralten, rumpelnden, quietschenden, knarrenden Zug, bis wir in die grauen Katakomben der Liverpool Street Station einfuhren. Ich war noch nie in England gewesen, daher war es für mich ein großer Schock, als ich sah, wie armselig, verfallen, hässlich und schmutzig alles war, die Züge, die Häuser entlang der Schienen, das Personal auf den Bahnsteigen, die Bahnhöfe.
»Welch ein Dreck«, sagte ich zu Katja.
»Dort, wo mein Bruder wohnt, im Süden von London, sieht es besser aus.«
»Wie kommst du dahin?«
»Mit der U-Bahn von Liverpool Street Station nach Waterloo Station. Dort in den Zug. Umsteigen in Clapham Junction und dann noch eine knappe Stunde. Wo musst du hin?«
»In eine Seitenstraße der Tottenham Court Road. Dort befindet sich das Laboratorium.«
»Dann kannst du am besten auch die U-Bahn nehmen.«
Wie es da unten roch! Eine Grabesluft! Dort in der Tiefe, die zweifelhaft riechende Luft einatmend und mich immer wieder vor den plötzlich und geisterhaft aus den Tunneln auftauchenden Bahnen erschreckend, verabschiedete ich mich von Katja.
»Danke für die Creamcracker«, sagte ich. »Und für die Tablette.«
»Hier, nimm die angebrochene Packung mit. Für morgen früh.«
»Vielen Dank! Bis Sonntag in einer Woche.«
»Ja, bis Sonntag.«
Wir winkten einander zu. Ich sah sie im unterirdischen Labyrinth verschwinden. Ich murmelte vor mich hin: »Sie ist netter, lieber und herzlicher, als ich auf den ersten Blick gedacht habe. Schade, dass sie immer Hosen trägt, denn so ein langer Mantel sieht noch besser aus, wenn man darunter einen ganz kurzen Rock anhat, der ab und zu für einen Moment zu sehen ist. Schade auch, dass sie offenbar immer flache Schuhe trägt. Und keine Spur Make-up, nichts, pur Natur. Na ja, es hat durchaus auch etwas für sich, die ganze Schminke, das ist schließlich nur Schwindel.«
Während ich tagsüber durch London ging, musste ich noch öfter an sie denken. Allein auf der Tottenham Court Road sah ich zwei Dutzend Mädchen in winzigen Röcken und Netzstrumpfhosen, die atemberaubend aussahen. Obwohl es kalt war, trugen sie keinen Mantel, sondern waren halb nackt unterwegs.
Nach einigem Herumirren fand ich schließlich in einer unansehnlichen Seitenstraße das parasitologische Laboratorium. Es war in einer alten Schule untergebracht, der jegliche Repräsentativität fehlte: ein verdreckter Eingang,
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