Schneeflockenbaum (epub)
Was machte sie? Las sie ein Buch? Die Bibel vielleicht? Sie trug einen quietschrosafarbenen Angorapullover. Darunter schimmerte derselbe Minirock, den sie auch in der Breestraat getragen hatte. Langsam blätterte sie um. Hauchdünnes Papier, jede Wette also, dass es sich um eine Bibelseite handelte.
Da sie mit dem Rücken zur Straße saß, wagte ich es, die Straße zu überqueren. Ich spähte hinein. Nun konnte ich sie besser sehen und bemerkte ihre herrlichen grünen Netzstrümpfe und die hohen Absätze. Am meisten faszinierte mich jedoch das gelbe Lampenlicht auf den Eyelure-longline-Fingernägeln. Es war, als stünden ihre Fingerspitzen in Flammen.
Regungslos starrte ich durchs Fenster und dachte die ganze Zeit: welch ein seltsames, verrücktes, verklemmtes Wesen. Wieder blätterte sie eine der hauchdünnen Seiten mit ihren Flammennägeln um. Offenbar las sie wieder im Neuen Testament, wahrscheinlich den Hebräerbrief: »Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter, noch zu dem Hall der Posaune und zu der Stimme der Worte, da sich weigerten, die sie hörten, dass ihnen das Wort ja nicht gesagt würde; denn sie mochten’s nicht ertragen, was da gesagt ward.«
Lies nicht das Neue Testament, redete ich in Gedanken auf sie ein, lies das Alte. Genesis 38. Die Geschichte von Tamar, das ist deine Geschichte. Plötzlich drehte sie sich mit einem Ruck ihres toupierten Haarschopfs zum Fenster. Sie schaute mir geradewegs ins Gesicht, doch ob sie mich auch tatsächlich sah, weiß ich nicht. Meistens erkennt man kaum etwas, wenn man aus einem erleuchteten Zimmer auf eine dunkle Straße schaut. Trotzdem stand sie sofort auf. Ich hörte, wie hinter mir die Haustür geöffnet wurde. Dann erklang auf dem Pflaster das wütende Klappern von Pfennigabsätzen.
Sie wird noch fallen, dachte ich, und wartete daher, bis sie mich eingeholt hatte.
»Du?«, sagte sie ganz außer Atem.
»Ja«, sagte ich.
»Lust auf eine Tasse Tee?«
»Lust schon, aber keine Zeit. Ich muss den Zug zur Fähre kriegen. Ich fahre heute Nacht nach England.«
»Dann begleite ich dich ein Stück.«
»Meinetwegen.«
»Warum bist du beim letzten Mal heimlich abgehauen?«
»Ich hatte keine Lust, zu Ichthus zu gehen.«
»Das hättest du mir doch sagen können.«
»Das hätte ich tun können, ja.«
»Der Herr Jesus ...
»… hat dir heute Abend wieder befohlen, deine Haare zu toupieren. Wen musst du denn heute retten?«
»Das wusste ich noch nicht, als er heute Nachmittag zu mir sagte: ›Mach dich fertig.‹ Jetzt weiß ich’s: dich.«
»Du spinnst.«
Auf der Steenstraat schauten sich fast alle Männer nach uns um. Manche pfiffen leise zwischen den Zähnen.
»Weißt du«, sagte ich, »hier gibt es jede Menge Arbeit für dich. Aber sei vorsichtig. Du solltest besser mit einer Freundin zusammenarbeiten. Gibt es bei Ichthus nicht noch ein Mädchen, das sich wie ein Flirty-Fishing -Flittchen anziehen will, um Seelen zu retten?«
»Leider nicht.«
»Selbst in der kleinen Hafenstadt, aus der ich stamme und wo wie bekloppt evangelisiert wird, habe ich niemals eine Frau im Minirock auf die Straße gehen sehen, um Männer wieder auf den rechten Pfad zu führen. Was für eine irrwitzige Ausrede, um solch einen wunderbaren engen Angorapullover anziehen zu dürfen!«
Sie lächelte. »Da siehst du, dass das, was ich mache, gar nicht so blöd ist. Wenn ich einen solchen Pullover anziehe, errege ich damit deine Aufmerksamkeit und schaffe es vielleicht, dich in Jesu Arme zurückzuführen.«
»Dazu braucht es mehr als nur einen roten Angorapullover. Soll ich mich in England nach etwas Schönem für dich umsehen?«
»Wenn du zufällig welche findest, könntest du mir vielleicht ein paar Sets Eyelure-longline-Fingernägel kaufen. Die kriegt man hier nämlich nicht.«
»Und auf die kannst du bei der Verkündigung nicht verzichten?«
»Lass deine Scherze.«
»Ich werde die Augen offen halten«, sagte ich, »und dir die Sachen in den Briefkasten werfen, wenn ich am Freitagmorgen wieder nach Hause gehe.«
»Nein, das möchte ich nicht, du musst sie mir persönlich geben. Dann kann ich dir auch deine Unkosten erstatten. Freitagmorgen muss ich arbeiten, komm am Abend vorbei.«
»In Ordnung.«
»Dann also bis Freitag. Ich gehe jetzt zurück. Gute Reise.«
Auf dem Bahnsteig ging ich aufgeregt hin und her. Was hatte ich getan? Warum war ich durch die
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