Schneeflockenbaum (epub)
trug, erkannte ich sie nicht auf Anhieb. Sie aber erkannte mich sofort und rief nach mir, als ich an ihr vorbeiging. Erstaunt sah ich mich um. Sie winkte mir zu, und ich ergriff die Flucht.
Anfang November traf ich sie etwa zur gleichen Zeit erneut. Diesmal auf der Breestraat, und zwar wieder als aufgedonnertes Flittchen. »Heute hat der Herr dir aber seinen Tagesbefehl schon früh erteilt«, dachte ich spöttisch. Im dunkelgrauen Novemberlicht sah sie vielleicht noch überzeugender aus als an jenem schicksalhaften Abend. Man drehte sich nach ihr um, pfiff ihr sogar hinterher. Mich bemerkte sie zum Glück nicht. Dennoch war ich versucht, ihr zu folgen und sie anzusprechen. Wenn Jesus ihr den Befehl gab, sich die Haare zu toupieren, um eine Seele zu retten, dann konnte er ihr doch auch befehlen, mit einem Sünder ins Bett zu gehen, um ihn auf den rechten Pfad zurückzuführen. Aber ich sah mich schon wieder in dem gruseligen Zimmer mit dem verzweifelten Petrus, der bis zur Hüfte im See von Genezareth versunken ist, und ich verwarf den Gedanken sofort wieder.
Als ich wieder im Labor war, zeigte sich, dass sich ihr Bild in meine Netzhaut eingebrannt hatte. Schaute ich in mein binokulares Mikroskop, sah ich keine Kornkäfer und Schlupfwespen, sondern einen Schopf mit wild toupierten Haaren, einen Minirock und Netzstrümpfe. Drüben in der Vrouwenkerkkoorstraat brannte zweifellos ein ebensolcher hormonaler Kanonenofen, wie er auch in meinem Innersten glühte. Wie konnte ich es schaffen, die Verteidigungslinie des Evangeliums zu durchbrechen, um mich daran zu wärmen?
Am späten Nachmittag wurde ich zum Institutsleiter gerufen.
»Wir haben ein Problem. Heute Abend sollte Joop die Nachtfähre von Hoek van Holland nach Harwich in England nehmen und nach London weiterreisen, um dort morgen früh Schlupfwespeneier auszutauschen. Die Kollegen dort haben Arten, die wir noch nicht besitzen, und wir verfügen über Mellitobia , die sie unbedingt haben wollen. Die Sachen per Post zu schicken geht leider nicht, denn das gibt jedes Mal Probleme beim Zoll. Wenn man aber ein Röhrchen mit Getreidekörnern, in denen parasitierte Kornkäfer stecken, in das Mantelfutter einnäht, kommt man meistens problemlos durch den Zoll. Wie ich schon sagte, Joop sollte fahren, aber er ist krank geworden. Ich wollte dich fragen: Könntest du für ihn einspringen?«
»Heute Abend noch nach England?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, und morgen mit der Nachtfähre wieder zurück.«
»Zwei Nächte auf dem Schiff?«
»Du hast eine Kabine. Du kannst schlafen.«
Einen Moment lang widersetzte ich mich noch diesem Ansinnen. Aber: Ich war Student, ich war ambitioniert, ich fühlte mich geschmeichelt, weil man mich für diese Aufgabe ausgewählt hatte, und so ließ ich mich überreden. Fachmännisch nähte der technische Dienst das Röhrchen mit den von Mellitobia -Weibchen bearbeiteten Getreidekörnern in mein Mantelfutter. Ach, was für ein wunderbares Geschöpf, Mellitobia ! Auf vierhundert Weibchen kommt ein Männchen, und die muss es, sobald es aus dem Ei kommt, rasend schnell befruchten. Orientierungslos läuft das Männchen auf den Getreidekörnern umher, auf der Suche nach den vierhundert Weibchen. Augen hat es nicht, sein ganzer Körper ist ein einziger Sack voller Sperma. Sogar im Kopf schwimmen Samenzellen herum. Von Kopf bis Fuß ist es auf Liebe eingestellt.
Man überreichte mir Joops Tickets sowie ein paar englische Pfund. Ich fuhr zur Uiterste Gracht, nahm meinen Pass und aß, obwohl ich vor Aufregung kaum Appetit verspürte, noch schnell ein Butterbrot. Dann begab ich mich zum Bahnhof. Ich ging den Weg, den ich von meinem Zimmer aus immer nahm: Uiterste Gracht, Groenesteeg, Hooigracht, Haarlemmerstraat.
In Höhe der Coelikerk pochte mir das Herz in der Kehle. Sogleich kam ich an der Vrouwenkerkkoorstraat vorbei. Vorbei? Ich konnte doch auch durch diese Straße, über den Vrouwenkerkhof und durch die Caeciliastraat zum Bahnhof gehen? Das war bestimmt etwas kürzer. Ich bog ab, in die Vrouwenkerkkoorstraat. Ich verlangsamte meinen Schritt. Ich hatte noch jede Menge Zeit. Der Zug zur Fähre fuhr erst in anderthalb Stunden.
Es war bereits dunkel. Die Straßenlaternen brannten, und aus Tinas Häuschen schimmerte Licht. Die Vorhänge waren offen. Ich wechselte auf die andere Straßenseite, denn es erschien mir nicht klug, genau an ihrem Fenster vorbeizugehen. Ich sah sie im Lampenlicht sitzen, genauer gesagt, sah ich ihr wild toupiertes Haar.
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