Schneeflockenbaum (epub)
was nicht an, Punktum.«
»Ich sag ja nicht, dass du so was tragen sollst.«
»Du vielleicht nicht, aber meine Schwägerin. Sie wollte mit mir einkaufen gehen. Aber ich zieh solche Kleider für kein Geld der Welt an. Ich habe O-Beine. Das braucht keiner zu sehen. Und wenn man Flöte spielt, muss man fest auf dem Boden stehen, und darum weg mit all dem Zeug mit Riemchen und Absätzen.« Sie sah mich grimmig an. »Du würdest doch auch nicht in einem bauchfreien Pullover herumlaufen?«
»Wenn du es schön fändest ...
»Aha! Du willst mich auch in solch einen blöden Minirock stecken. Vergiss es, das kannst du dir abschminken.«
»Auf dem Schiff trugst du einen langen Mantel. Der stand dir phantastisch.«
Es schien, als hörte sie es nicht. Beinahe wieder aufstampfend, sagte sie: »Von allen Seiten wird an einem gezerrt und geschoben. Immer wieder wird versucht, einen so weit zu kriegen, dass man bei der bescheuerten Minimode mitmacht. Ich mach da nicht mit. Man trägt Kleider, um sich zu wärmen, nicht um wie eine Vogelscheuche auszusehen.«
»Dieser lange Mantel«, wiederholte ich unbeirrt, »der Pelzmantel stand dir phantastisch. Du wirktest größer, beinahe stattlich. Ich habe erst gar nicht bemerkt, dass du es warst, und dachte nur: Was für eine wunderschöne Frau dort an der Reling steht.«
Erstaunt und verlegen zu mir aufschauend, schenkte sie Tee ein. »Möchtest du etwas dazu essen?«, fragte sie.
»Nein danke, von diesen ganzen Süßigkeiten wird man nur dick.«
»Dick gefällt dir nicht?«
»Ich verabscheue Fettleibigkeit.«
»Ich wünschte, ich wäre ein wenig molliger, etwas rundlicher. Ich bin so ein dürrer Hering. Und hier habe ich gar nichts«, sagte sie, wobei sie mit der Hand über den fehlenden Busen strich.
»Menschenaffenweibchen – Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans, Bonobos – haben keine Brüste. Ebenso wenig wie alle anderen Affen übrigens. Nur beim Menschen kommen diese seltsamen Dinger vor. Wieso? Keiner weiß es. Gab es irgendwann einmal einen Selektionsdruck, der großen Milchdrüsen einen Vorteil verschaffte? Weil es den Männchen gefiel? Aber Brüste sind nur kurze Zeit schön. Ein paar Kinder, und es ist vorbei mit der Herrlichkeit. Sie werden schlaff, hängen und werden faltig. Sei froh, dass du nichts hast. Wo nichts ist, kann auch nichts hängen.«
»Aber ich bin flach wie ein Brett, ich könnte ein Junge sein.«
»Dann musst du auch keinen BH tragen. Das stelle ich mir ziemlich angenehm vor.«
»Mein Gott, du ... ich fand es immer schrecklich, dass ich ... so flach ... und jetzt kommst du ... du machst mir Mut ... um aber noch einmal aufs Essen zurückzukommen, eines sag ich dir gleich: Ich bin kein Leichenfledderer. Fleisch kommt mir nicht auf den Tisch, ausgeschlossen.«
»Auch kein Fisch?«
»Nein.«
»Das ist aber schade. Fleisch ist wahrscheinlich ziemlich ungesund, aber Fisch ... all diese hochwertigen Eiweiße ... andererseits werden die Meere in rasendem Tempo leer gefischt, vielleicht ist es besser, auch auf Fisch zu verzichten.«
»Gefangene Fische sterben vermutlich noch grausamer als Schweine und Kühe im Schlachthof. Sie ersticken langsam.«
»Das schon, aber alles, was lebt, verschlingt einander auf schreckliche Weise. Wenn du den Verzehr von Fleisch und Fisch ablehnst, dann sagst du eigentlich: Gott, mit dieser abscheulichen Schöpfung will ich nichts zu tun haben.«
»Mit Gott hab ich eh nichts am Hut. Den gibt es gar nicht.«
»Bist du von Hause aus ...?«
»Nein, nichts, wir sind Atheisten. Mein Vater sagte immer: ›Drei Geißeln plagen die Menschheit: Krieg, Krankheit und Religion.‹ Viele Kriege – denn Krieg und Religion sind schließlich zwei Seiten einer Medaille – sind im Übrigen Religionskriege. Religion ist folglich die schlimmste Geißel. Und jetzt mache ich Essen. Aus England habe ich eine Platte von Kathleen Ferrier mitgebracht. Hast du Lust, sie in der Zwischenzeit zu hören?«
»Eine Schallplatte? Du verrätst deine Prinzipien?«
Während sie in der Küche das Essen machte, durfte ich die Schallplatte auflegen und hörte zum ersten Mal die beiden wunderschönen Lieder von Brahms für Alt, Klavier und Bratsche, Gestillte Sehnsucht und Geistliches Wiegenlied . Außerdem war auf der Platte auch das einmalige Wunder in Brahms’ Œuvre: die Sapphische Ode . Von der konnte ich nicht genug bekommen. Immer wieder hob ich den Tonarm von der Platte, bewegte ihn zurück und spielte die Sapphische Ode noch einmal, und
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