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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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zwar so lange, bis ich sie ganz mitsingen konnte.
    Ich war von Brahms so angetan, dass ich kaum bemerkte, wie spartanisch die Mahlzeit war, die ich vorgesetzt bekam. Vollkornreis mit Munsprossen und fein geschnittenen, leicht angeschwitzten roten Zwiebeln. Gebratene Selleriescheiben, Möhrchen und kurz blanchierter Weißkohl.
    Ich summte noch immer die Sapphische Ode vor mich hin: »Welch ein Juwel. Dieser Brahms ... auf Fotos sieht man einen alten Mann mit einem zotteligen Bart, in dem die Suppennudeln hängen bleiben. Bei dem Bart denkt man: Was der schreibt, taugt sowieso nichts.«
    »Leider hat er nicht für Flöte komponiert. Allerdings gibt es in den Symphonien wunderbare Flötensoli. Vor allem im letzten Satz der Vierten . Das Solo durfte ich mal bei einer Aufführung spielen.«
    »Ich finde die Zweite so herrlich. Besonders die paar Takte kurz vor dem Schluss des ersten Satzes. Reine Magie!«
    »Wer ist dein Lieblingskomponist?«
    »Weiß ich nicht. Ich kenne bisher kaum welche. Bei uns zu Hause war klassische Musik tabu. Nur Psalmen, sonst nichts. Selbst Bach lehnten meine Eltern ab, weil die Matthäuspassion in Tränen endet und folglich nicht auf die Auferstehung hindeutet. Pah, Auferstehung, welch eine schändliche Bauernfängerei.«
    Sie musste über meine Empörung lachen, und das tat mir gut, denn sie hatte so ein fröhliches, ansteckendes Lachen, bei dem man für einen Moment das Gefühl hat, dass alles, was einen belastet und bedrückt, einfach so verschwindet, wie Septembermorgennebel in der aufgehenden Sonne.
    »Ich weiß schon seit meiner Geburt, wer mein Lieblingskomponist ist. Mein Vater erzählt immer, dass ich schon in der Wiege mit den Fäustchen trommelte und summte, wenn er leise ›Voi che sapete‹ für mich sang.«
    Leise fing sie an zu singen: »Voi che sapete che cosa è amor.«
    Nach dem Wort »amor« verstummte sie.
    »Warum hörst du auf? Du singst fast so schön, wie du Flöte spielst.«
    Sie sah mich traurig an. »Weißt du es? Che cosa è amore?«
    »Was Liebe ist? Nein, das weiß ich nicht.«
    »Ich auch nicht.« Sie schaute aus dem Fenster auf das sich kräuselnde Wasser des Nieuwe Rijn. »Wenn man in der Wiege liegt, findet man ›Voi che sapete‹ vielleicht am allerschönsten, aber später gefiel mir die andere Arie Cherubinos noch besser.«
    Und wieder begann sie zu singen: »Non so più cosa son, cosa faccio.«
    »Was für eine schöne Stimme du hast«, sagte ich.
    »Auf dem Konservatorium habe ich im Nebenfach Gesang studiert. Meine Lehrer haben immer wieder gesagt, ich solle damit weitermachen, mit dieser Stimme wäre ich in null Komma nichts auf der Bühne. Ich würde wirklich gerne singen, aber wie bekommt man dabei seine Gefühle in den Griff? Wenn man Flöte spielt, bricht man nicht so schnell in Tränen aus, aber wenn man singt ... so etwas wie dies hier ...
    Erneut stimmte sie die Arie des Cherubino an. Tränen schossen ihr in die Augen. Erschrocken fragte ich: »Was hast du?«
    »Nichts«, erwiderte sie gereizt und fuhr dann fort: »Ich glaube, ich habe mich ein bisschen verliebt.«
    »In wen denn?«, wollte ich wissen.
    »In einen Jungen, der, wie ich glaube, nicht in mich verliebt ist.«
    »Wie tragisch.«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Aber vielleicht findet der Junge dich ja doch sehr nett, auch wenn er nicht verliebt ist in dich.«
    »Er findet mich nett, wenn ich im langen Mantel an der Reling stehe. Aber ich kann doch nicht den ganzen Tag im Mantel an irgendwelchen Relings stehen. Ansonsten ist er genau wie all die anderen Arschlöcher. Er möchte auch, dass ich irgendwelche Fummel trage, in denen man sich eine Blasenentzündung holt.«
    Langsam stand ich auf. Nicht umsonst hatte ich in der Woche zuvor kostenlosen Unterricht erhalten. Ich zog sie von ihrem Stuhl hoch, legte meine Arme um sie und erschrak kurz, als ich spürte, dass sie zitterte wie Taube Trespe. Vorsichtig drückte ich sie an mich. Wie klein sie war! Sie reichte mir gerade bis zur Schulter. Ich dachte daran, wie leicht es Jouri fallen würde, sie im Wasser hochzuheben. Um ihm zuvorzukommen, hob ich sie, den Blick auf das sich friedlich kräuselnde Wasser des Nieuwe Rijn gerichtet, hoch, trug sie durchs Wohnzimmer und stellte sie auf einen Fußschemel, sodass unsere Lippen mehr oder weniger auf gleicher Höhe waren.
    Während ich sie trug und sie dies, immer noch heftig zitternd, mit geschlossenen Augen geschehen ließ, hatte ich ziemlichen Bammel, dass ich, jetzt, da ich dem

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