Schneegeflüster
für mich gestrichen. Ich darf jetzt mal schnell einen idyllischen Heiligabend basteln.« - »Ich hab die Szenen gerade gelesen«, raunte die Requisiteurin zurück, »da steht vom Christbaum über Plätzchen und Lebkuchen bis hin zum Mistelzweig wirklich alles drin. Das volle Programm.« Sie drückte ihr die sozusagen druckfrischen Drehbuchseiten in die Hand und lief zurück ans Set. Dort verlangte die Hauptdarstellerin inzwischen lauthals nach jemandem, der imstande war, das Kaminfeuer wieder in Gang zu bringen, weil sie sich sonst bei der Probe nicht so richtig in ihre Rolle hineinversetzen könne. »Ich brauch das einfach fürs Gefühl«, hörte Inka sie noch tönen, ehe sie die Tür der Villa hinter sich zufallen ließ und aus der Winteridylle wieder in den Hochsommer trat.
Im Volvo hatte die Mittagssonne inzwischen eine brütende Hitze erzeugt, und Inka machte sich leicht panisch erneut auf den Weg ins Büro. Diesmal fehlte ihr allerdings jeder Nerv für das schöne Wetter oder die fröhliche Radiomusik. Wie nur sollte man sich bei diesen in jeder Hinsicht kontraproduktiven Temperaturen auf die höchst eilige Organisation eines Weihnachtsabends konzentrieren? Es lag natürlich in der Natur der Sache: Was im Dezember im Fernsehen laufen sollte, musste schon Mitte des Jahres gedreht werden. Normalerweise kein Problem, aber mitten im Sommer war es fast unmöglich, so kurzfristig irgendwo Christbaumschmuck, Lebkuchen und Stollen aufzutreiben. Das bekannte Weihnachtslied »Morgen, Kinder, wird’s was geben« bekam da wirklich eine völlig neue Dimension.
Am Schreibtisch angekommen, hängte sich Inka sofort ans Telefon und rief zunächst Frank, den Gärtner, an, der ihr für jeden Film die nötigen Gewächse lieferte und auch schon den Riesenchristbaum für den Dreh am Weihnachtsmarkt besorgt hatte. Das war das einzig Angenehme an diesem spontanen Heiligabend. Inka mochte Frank sehr gern und freute sich jedes Mal, wenn sie mit ihm arbeiten konnte. Für diese Produktion war die Zusammenarbeit eigentlich schon abgeschlossen gewesen, umso glücklicher war Inka über die erneute Gelegenheit zur Kontaktaufnahme. Allerdings wurde es sogar für den versierten Gärtner jetzt knapp. »Du weißt, ich würde dir so ziemlich jeden Gefallen der Welt tun«, begann er, und seine Stimme ließ Inka ein leichtes Kribbeln im Bauch spüren, »aber da sehe ich wirklich schwarz. Die andere Tanne war schon nicht so einfach aufzutreiben.« - »Es muss gar nicht unbedingt eine Tanne sein, ne Fichte tut’s auch«, flehte Inka. - »Na gut, ich sehe, was ich tun kann und melde mich dann.«
Auch die anderen Zulieferer machten Inka keine großen Hoffnungen. Die Bäckereien lehnten es allesamt entschieden ab, mitten im Juli über Nacht eine ganze Batterie verschiedener Plätzchen, Kipferl, Lebkuchen und Stollen zu backen. Dekorations- und Bastelgeschäfte hatten frühestens ab September weihnachtliches Zubehör auf Lager, nicht einmal Christbaumkerzen waren im Sommer irgendwo zu bekommen. Und von heute auf morgen schon gar nicht. Basta.
Nachdem sich Inka am Telefon unzählige Lachanfälle, Beleidigungen und Überraschungsausrufe angehört hatte und als einziges Resultat eine übrig gebliebene Weihnachtspyramide »mit ein paar kleinen Mängeln« vorweisen konnte, legte
sie entmutigt den Hörer auf. Sie war den Tränen nahe. Wie nur sollte sie bis morgen einen idyllischen Heiligabend auf die Beine stellen, wenn sich die ganze Stadt in ihrer Sommerlaune offensichtlich gegen sie verschworen hatte?
»Einmal werden wir noch wach …« Von wegen »heißa«! Inka sah panisch auf ihre Armbanduhr. Halb zwei. Bis man am Set zur ersten Probe das »Oh, du fröhliche« anstimmen würde, blieben ihr knapp zwanzig Stunden, von denen nur etwas mehr als sechs mit den allgemeinen Ladenöffnungszeiten konform gingen. Kurz entschlossen schnappte sie sich den Autoschlüssel vom Schreibtisch, lief aus dem Büro und eilte die Treppen hinunter zu ihrem Volvo, der inzwischen einer gut beheizten Sauna glich. Sie ließ alle Fenster hinunter und machte sich auf den Weg Richtung Innenstadt. Wenn sie morgen um neun nicht zum ersten Mal in ihrem Requisiteursleben mit leeren Händen dastehen und sich vor der gesamten Filmcrew bis auf die Knochen blamieren wollte, dann musste sie jetzt schnellstens improvisieren.
Unterwegs rief sie vom Handy aus Sabine an, um sie über den nicht gerade erfreulichen Stand der Dinge auf dem Laufenden zu halten. Die Kollegin versprach, sich
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