Schneegeflüster
day«, sang Brenda Lee in der Küche, und Inka hoffte inständig, dass diese Zeile für Frank nicht grausame Wirklichkeit würde. Zunächst einmal musste sie ihm die Sachlage erklären. »Ich rufe mal kurz beim Schlüsseldienst an«, sagte sie durch die Tür, das musste vorerst genügen. Schnell lief sie in die Küche, wo ihr Handy lag.
Die Auskunft verband sie nacheinander mit drei verschiedenen Schlüsseldiensten. Zweimal meldete sich lediglich ein Anrufbeantworter, der letzte erklärte sich immerhin bereit, in etwa zwei Stunden jemanden zu schicken. Nicht gerade rosige Aussichten für Frank. Wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm das beibrachte? Als sie wieder zur Kellertür kam, lauschte sie erst einmal vorsichtig nach innen. Alles still. Hoffentlich war nichts passiert! Inka klopfte leise. »Herein«, kam es ruhig von der anderen Seite. »Sehr witzig«, gab sie zurück, »geht’s dir gut?« - »Ich fühle mich schon recht weihnachtlich. Es ist dunkel, kalt und riecht nach verbrannten Plätzchen.« - »O nein, die hab ich ja ganz vergessen!« Erschrocken lief sie in die Küche, wo Andy Williams »Let it snow, let it snow, let it snow« schmetterte, und dicker Rauch aus dem Backofen quoll. Inka zog schnell das Blech mit dem verkohlten Gebäck heraus und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen.
Bedrückt ging sie zurück zu ihrem eingesperrten Tannenkavalier. »So langsam komme ich mir tatsächlich vor wie an Weihnachten«, meinte sie, »da ging bei uns früher auch alles schief.« Sie ließ sich vor der Kellertür in die Knie sinken und kauerte sich auf den Boden. »Und ich kann dir nicht mal einen Tee oder irgendwas bringen, bis der Schlüsseldienst kommt.« - »Dann musst du mir eben was Wärmendes erzählen«, schlug Frank vor, dem die Geschehnisse der Nacht offenbar nicht im Geringsten die Laune verdarben. »Wie war das denn bei euch an Weihnachten?«
»I’ll be home for Christmas«, steuerte die CD zur Stimmung bei, und Inka erzählte dem Gärtner Weihnachtsgeschichten aus ihrer Kindheit. Wie ihre Mutter sich jedes Jahr beim Schmücken beschwert hatte, dass der Baum viel zu
bunt werde, hinterher aber trotzdem stets begeistert gewesen war. Wie sie selbst immer unbedingt die größte Tanne haben wollte, von der dann jedes Mal die Spitze abgeschnitten werden musste. Sie schwärmte vom Nudelsalat am Heiligen Abend, der Gans am ersten Feiertag und dem Früchtebrot, das niemand je so gut gemacht habe wie ihre Oma. Frank steuerte eigene Festerlebnisse bei, erzählte vom Stollen seiner Großmutter, der Feuerzangenbowle des Großvaters, furchtbar kitschiger Radiomusik und den ewig verknoteten Lichterketten der familiären Weihnachtsdekoration.
Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen. Trotzdem kam es Inka vor, als könnten seit ihrem Telefonat mit dem Schlüsseldienst nie im Leben schon zwei Stunden vergangen sein, als es an der Haustür klingelte. Fast tat es ihr leid, dass die angeregte Unterhaltung so abrupt beendet wurde. Wenn sie Frank gegenüberstand, konnte sie längst nicht so unbefangen mit ihm reden. Woran das wohl lag? »Gleich bist du frei«, rief sie ihm durch die Tür zu und lief los, um dem Retter zu öffnen.
»Überraschung!« Wer da inmitten der eigens für den Dreh gezauberten Schneepracht auf dem Gartenweg stand, war allerdings nicht der Abgesandte vom Schlüsseldienst. Inka traute ihren Augen kaum, als sie draußen ihre liebsten Filmkollegen erblickte. Ganz vorneweg natürlich Requisiteurin Sabine, die strahlend ausrief: »Da staunst du, oder? Wir haben für dich unsere Weihnachtskisten geplündert.« Erst jetzt bemerkte Inka, dass alle irgendwelche Kartons oder Tüten trugen, mit denen sie sich nun an ihr vorbei ins Foyer der Villa zwängten.
Hoffentlich machte sich Frank nicht bemerkbar, schoss es ihr durch den Kopf, als die Truppe die verschlossene Kellertür
passierte. Doch alles blieb ruhig. Das fehlte noch, dass das gesamte Filmteam ihr peinliches Missgeschick mitbekam. Viele Kollegen hatten sie schon mit dem gut aussehenden Gärtner aufgezogen, und wenn sie in den nächsten Wochen und Monaten nicht ununterbrochen auf ihre geheimnisvolle Beziehung angesprochen werden wollte, musste sie den Eingeschlossenen und seine hoffentlich baldige Freilassung verheimlichen.
Der Überraschungsbesuch war inzwischen mit Sack und Pack ins Wohnzimmer gezogen, wo man allgemein den schönen Baum bewunderte. Dann zauberten die Kollegen aus Kisten und Taschen Christbaumkugeln in allen Farben,
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