Schneegeflüster
CD-Player und drehte am Lautstärkeregler, bis »Merry
Christmas everyone« ohrenbetäubend durch die Küche dröhnte. Schnell ging sie zurück zur Tür, öffnete sie einen Spalt und schob ihre Hand mit dem nach oben gestreckten Daumen hindurch. Sollte der Mensch vom Schlüsseldienst doch denken, was er wollte. Die Meinung der Kollegen war ihr entschieden wichtiger.
Die sahen Inka jetzt jedoch ziemlich verwundert an, als sie auch noch begann, das Lied, dessen Text sie nicht besonders gut kannte, mehr schlecht als recht mitzusingen. Und weil das Kreischen der Bohrmaschine immer noch leise im Hintergrund zu hören war, verstärkte sie den Gesang sogar noch. Die anderen standen schmunzelnd um Inka herum und ließen sie gewähren. Vermutlich nahmen sie an, sie wäre mit den Vorbereitungen für den Dreh am nächsten Tag nun doch etwas überfordert. »It’s the season, for love … la la la la la, Merry Christmas everyone«, plärrte sie und hoffte inständig, dass die Arbeit des Fachmanns vor der von Shakin’ Stevens beendet war. Zum Glück war sie das.
Beim vorletzten »Snow is falling, all around me« verstummte das kaum hörbare Kreischen im Flur plötzlich. Inka dagegen sang das Lied bis zum bitteren Ende mit, um das gelungene Ablenkungsmanöver nicht zu gefährden. »Irgendwie war es deutlich gemütlicher, als du draußen warst«, meinte Beleuchter Wolfgang trocken, nachdem sie die Darbietung beendet hatte, und nahm einen weiteren Schluck seines mitgebrachten Glühweins vom Vorjahr. Inka nutzte die Gelegenheit. »Bin schon weg«, rief sie und war schon wieder im Flur.
Dort kam ihr Frank bereits entgegen, offensichtlich unversehrt, wie sie erleichtert registrierte. Schnell schob sie ihn und den Mann vom Schlüsseldienst vor die Haustür.
»Was bin ich Ihnen schuldig?« - »Das macht 82,50 mit Flüsterzuschlag«, witzelte der Mann und füllte eine Quittung aus. In dem Moment bemerkte Inka, dass sie ihren Geldbeutel in der Küche liegen hatte. Jetzt noch einmal zurückzugehen, ohne Erklärung für das ständige Rein und Raus in den letzten Minuten, war unmöglich.
Hilfesuchend sah sie Frank an. Der verstand sofort. »Ich hab mein Geld im Auto. Ich mach das schon«, versprach er und hatte kurz darauf die Rechnung beglichen. »Jetzt hab ich schon zwei Gefallen gut«, meinte er, als sie allein waren. »Und? Weißt du schon …?« Inka sah ihm in die Augen und bekam weiche Knie. »Hm.« Sachte zog er sie an sich und küsste sie zart auf den Mund. »Über zwei Stunden auf einer kalten, ungemütlichen Kellertreppe. Da hast du einiges gutzumachen.« - »Das schaff ich«, lächelte sie und küsste zurück. Frank schloss genießerisch die Augen: »Die Anzahlung ist ja schon mal ganz vielversprechend.« Wie praktisch, dachte Inka, eine perfekt-romantische Schneeidylle bei äußerst angenehmen Temperaturen. Das gab es nicht allzu oft.
Gerade als Frank sie etwas weiter in den sorgsam verschneiten Garten der Villa ziehen wollte, hörte sie Sabine von drinnen nach ihr rufen. »Ich muss rein«, flüsterte sie und gab ihm noch einen letzten Kuss, »bis ganz bald.« - »Ich freu mich«, strahlte er und lief zu seinem Auto. »Singen kannst du allerdings nicht!«, hörte sie ihn noch, als er einstieg. Dann verschwand sein Wagen in der Dunkelheit.
Leise vor sich hin summend ging Inka zurück in die Villa, wo sie von den anderen ungeduldig erwartet wurde. »Was machst du denn die ganze Zeit? Da ist doch gerade ein Auto weggefahren?« Doch diesmal war sie nicht um eine Antwort verlegen. »Weihnachtsgeheimnis«, meinte sie verschmitzt
und freute sich über die verständnislosen Gesichter ihrer Kollegen.
Stolz führte die Truppe ihre Requisiteurin nun ins Wohnzimmer, wo der Baum mit Kerzen, Kugeln und Lametta stilvoll geschmückt in weihnachtlichem Glanz erstrahlte und so gut wie drehfertig war. Gerührt blickte Inka in die zufriedenen Gesichter. »Was für ein schöner Baum«, rief sie begeistert und bemerkte im selben Moment, dass sie sich genauso anhörte wie ihre Mutter früher. »Ihr habt mir wirklich unheimlich geholfen. Ich liebe euch.« - »Tja, Weihnachten ist ja schließlich auch das Fest der Liebe«, grinste Sabine. Sie wusste natürlich nicht, wie sehr sie damit ins Schwarze getroffen hatte. Inka jedoch konnte nicht verhindern, dass sie strahlte wie der Engel an der Christbaumspitze. Für sie war das Weihnachtswunder heute schon wahr geworden - und das mitten im Sommer.
SYBILLE CONRAD
Die Weihnachtsrevue
Vorsichtig nahm
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